Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 311 |
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Text (Kant):
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| 01 | § 48. |
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| 02 | Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack. |
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| 03 | Zur Beurtheilung schöner Gegenstände als solcher wird Geschmack, | ||||||
| 04 | zur schönen Kunst selbst aber, d. i. der Hervorbringung solcher | ||||||
| 05 | Gegenstände, wird Genie erfordert. | ||||||
| 06 | Wenn man das Genie als Talent zur schönen Kunst betrachtet (welches | ||||||
| 07 | die eigenthümliche Bedeutung des Worts mit sich bringt) und es in | ||||||
| 08 | dieser Absicht in die Vermögen zergliedern will, die ein solches Talent | ||||||
| 09 | auszumachen zusammen kommen müssen: so ist nöthig, zuvor den Unterschied | ||||||
| 10 | zwischen der Naturschönheit, deren Beurtheilung nur Geschmack, | ||||||
| 11 | und der Kunstschönheit, deren Möglichkeit (worauf in der Beurtheilung | ||||||
| 12 | eines dergleichen Gegenstandes auch Rücksicht genommen werden muß) | ||||||
| 13 | Genie erfordert, genau zu bestimmen. | ||||||
| 14 | Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist | ||||||
| 15 | eine schöne Vorstellung von einem Dinge. | ||||||
| 16 | Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurtheilen, brauche ich | ||||||
| 17 | nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für ein | ||||||
| 18 | Ding sein solle; d. i. ich habe nicht nöthig, die materiale Zweckmäßigkeit | ||||||
| 19 | (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntniß des | ||||||
| 20 | Zwecks gefällt in der Beurtheilung für sich selbst. Wenn aber der Gegenstand | ||||||
| 21 | für ein Product der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt | ||||||
| 22 | werden soll: so muß, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache | ||||||
| 23 | (und deren Causalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff von dem zum Grunde | ||||||
| 24 | gelegt werden, was das Ding sein soll; und da die Zusammenstimmung | ||||||
| 25 | des Mannigfaltigen in einem Dinge zu einer innern Bestimmung desselben | ||||||
| 26 | als Zweck die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurtheilung | ||||||
| 27 | der Kunstschönheit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in | ||||||
| 28 | Anschlag gebracht werden müssen, wornach in der Beurtheilung einer Naturschönheit | ||||||
| 29 | (als einer solchen) gar nicht die Frage ist. - Zwar wird in | ||||||
| 30 | der Beurtheilung vornehmlich der belebten Gegenstände der Natur, z. B. | ||||||
| 31 | des Menschen oder eines Pferdes, auch die objective Zweckmäßigkeit gemeiniglich | ||||||
| 32 | mit in Betracht gezogen, um über die Schönheit derselben zu | ||||||
| 33 | urtheilen; alsdann ist aber auch das Urtheil nicht mehr rein=ästhetisch, | ||||||
| 34 | d. i. bloßes Geschmacksurtheil. Die Natur wird nicht mehr beurtheilt, | ||||||
| 35 | wie sie als Kunst erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche) | ||||||
| 36 | Kunst ist; und das teleologische Urtheil dient dem ästhetischen zur | ||||||
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