Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 310 |
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01 | die einzigen Leitungsmittel, diese auf die Nachkommenschaft zu bringen: | ||||||
02 | welches durch bloße Beschreibungen nicht geschehen könnte (vornehmlich | ||||||
03 | nicht im Fache der redenden Künste); und auch in diesen können nur die | ||||||
04 | in alten, todten und jetzt nur als gelehrte aufbehaltenen Sprachen classisch | ||||||
05 | werden. | ||||||
06 | Obzwar mechanische und schöne Kunst, die erste als bloße Kunst des | ||||||
07 | Fleißes und der Erlernung, die zweite als die des Genies, sehr von einander | ||||||
08 | unterschieden sind: so giebt es doch keine schöne Kunst, in welcher | ||||||
09 | nicht etwas Mechanisches, welches nach Regeln gefaßt und befolgt werden | ||||||
10 | kann, und also etwas Schulgerechtes die wesentliche Bedingung der | ||||||
11 | Kunst ausmachte. Denn etwas muß dabei als Zweck gedacht werden, | ||||||
12 | sonst kann man ihr Product gar keiner Kunst zuschreiben; es wäre ein | ||||||
13 | bloßes Product des Zufalls. Um aber einen Zweck ins Werk zu richten, | ||||||
14 | dazu werden bestimmte Regeln erfordert, von denen man sich nicht frei | ||||||
15 | sprechen darf. Da nun die Originalität des Talents ein (aber nicht das | ||||||
16 | einzige) wesentliches Stück vom Charakter des Genies ausmacht: so glauben | ||||||
17 | seichte Köpfe, daß sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende | ||||||
18 | Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und | ||||||
19 | glauben, man paradire besser auf einem kollerichten Pferde, als auf einem | ||||||
20 | Schulpferde. Das Genie kann nur reichen Stoff zu Producten der schönen | ||||||
21 | Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert | ||||||
22 | ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, | ||||||
23 | der vor der Urtheilskraft bestehen kann. Wenn aber jemand sogar | ||||||
24 | in Sachen der sorgfältigsten Vernunftuntersuchung wie ein Genie spricht | ||||||
25 | und entscheidet, so ist es vollends lächerlich; man weiß nicht recht, ob man | ||||||
26 | mehr über den Gaukler, der um sich so viel Dunst verbreitet, wobei man | ||||||
27 | nichts deutlich beurtheilen, aber desto mehr sich einbilden kann, oder mehr | ||||||
28 | über das Publicum lachen soll, welches sich treuherzig einbildet, daß sein | ||||||
29 | Unvermögen, das Meisterstück der Einsicht deutlich erkennen und fassen | ||||||
30 | zu können, daher komme, weil ihm neue Wahrheiten in ganzen Massen | ||||||
31 | zugeworfen werden, wogegen ihm das Detail (durch abgemessene Erklärungen | ||||||
32 | und schulgerechte Prüfung der Grundsätze) nur Stümperwerk zu | ||||||
33 | sein scheint. | ||||||
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