Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 309 |
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01 | alle Vorschriften für die Dichtkunst und so vortrefflich auch die Muster | ||||||
02 | derselben sein mögen. Die Ursache ist, daß Newton alle seine Schritte, | ||||||
03 | die er von den ersten Elementen der Geometrie an bis zu seinen großen | ||||||
04 | und tiefen Erfindungen zu thun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem | ||||||
05 | andern ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen | ||||||
06 | könnte; kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich seine | ||||||
07 | phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe | ||||||
08 | hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst nicht weiß und es | ||||||
09 | also auch keinen andern lehren kann. Im Wissenschaftlichen also ist der | ||||||
10 | größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer und Lehrlinge nur dem | ||||||
11 | Grade nach, dagegen von dem, welchen die Natur für die schöne Kunst begabt | ||||||
12 | hat, specifisch unterschieden. Indeß liegt hierin keine Herabsetzung | ||||||
13 | jener großen Männer, denen das menschliche Geschlecht so viel zu verdanken | ||||||
14 | hat, gegen die Günstlinge der Natur in Ansehung ihres Talents für | ||||||
15 | die schöne Kunst. Eben darin, daß jener Talent zur immer fortschreitenden | ||||||
16 | größeren Vollkommenheit der Erkenntnisse und alles Nutzens, der davon | ||||||
17 | abhängig ist, imgleichen zur Belehrung anderer in eben denselben | ||||||
18 | Kenntnissen gemacht ist, besteht ein großer Vorzug derselben vor denen, | ||||||
19 | welche die Ehre verdienen, Genies zu heißen: weil für diese die Kunst irgendwo | ||||||
20 | still steht, indem ihr eine Gränze gesetzt ist, über die sie nicht weiter | ||||||
21 | gehen kann, die vermuthlich auch schon seit lange her erreicht ist und | ||||||
22 | nicht mehr erweitert werden kann; und überdem eine solche Geschicklichkeit | ||||||
23 | sich auch nicht mittheilen läßt, sondern jedem unmittelbar von der Hand | ||||||
24 | der Natur ertheilt sein will, mit ihm also stirbt, bis die Natur einmal | ||||||
25 | einen andern wiederum eben so begabt, der nichts weiter als eines Beispiels | ||||||
26 | bedarf, um das Talent, dessen er sich bewußt ist, auf ähnliche Art | ||||||
27 | wirken zu lassen. | ||||||
28 | Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben | ||||||
29 | muß, welcherlei Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt | ||||||
30 | zur Vorschrift dienen; denn sonst würde das Urtheil über das | ||||||
31 | Schöne nach Begriffen bestimmbar sein: sondern die Regel muß von der | ||||||
32 | That, d. i. vom Product, abstrahirt werden, an welchem andere ihr eigenes | ||||||
33 | Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster nicht der Nachmachung, | ||||||
34 | sondern der Nachahmung dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist | ||||||
35 | schwer zu erklären. Die Ideen des Künstlers erregen ähnliche Ideen seines | ||||||
36 | Lehrlings, wenn ihn die Natur mit einer ähnlichen Proportion der | ||||||
37 | Gemüthskräfte versehen hat. Die Muster der schönen Kunst sind daher | ||||||
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