Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 294 |
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01 | Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl | ||||||
02 | wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die | ||||||
03 | Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die | ||||||
04 | unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt: | ||||||
05 | welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande | ||||||
06 | Materie, d. i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt | ||||||
07 | und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung oder | ||||||
08 | seines Vorstellungszustandes Acht hat. Nun scheint diese Operation der | ||||||
09 | Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie dem Vermögen, welches | ||||||
10 | wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen; allein sie sieht auch nur so | ||||||
11 | aus, wenn man sie in abstracten Formeln ausdrückt; an sich ist nichts | ||||||
12 | natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein | ||||||
13 | Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll. | ||||||
14 | Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar | ||||||
15 | nicht hieher, als Theile der Geschmackskritik, können aber doch zur Erläuterung | ||||||
16 | ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken; | ||||||
17 | 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig | ||||||
18 | denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilfreien, die | ||||||
19 | zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart. | ||||||
20 | Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft. Der Hang | ||||||
21 | zur letztern, mithin zur Heteronomie der Vernunft heißt das Vorurtheil; | ||||||
22 | und das größte unter allen ist, sich die Natur Regeln, welche der Verstand | ||||||
23 | ihr durch sein eigenes wesentliches Gesetz zum Grunde legt, als nicht unterworfen | ||||||
24 | vorzustellen: d. i. der Aberglaube. Befreiung vom Aberglauben | ||||||
25 | heißt Aufklärung*): weil, obschon diese Benennung auch der Befreiung | ||||||
26 | von Vorurtheilen überhaupt zukommt, jener doch vorzugsweise ( in sensu | ||||||
27 | eminenti ) ein Vorurtheil genannt zu werden verdient, indem die Blindheit, | ||||||
28 | worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, | ||||||
*)Man sieht bald, daß Aufklärung zwar in Thesi leicht, in Hypothesi aber eine schwere und langsam auszuführende Sache sei: weil mit seiner Vernunft nicht passiv, sondern jederzeit sich selbst gesetzgebend zu sein zwar etwas ganz Leichtes für den Menschen ist, der nur seinem wesentlichen Zwecke angemessen sein will und das, was über seinen Verstand ist, nicht zu wissen verlangt; aber da die Bestrebung zum letzteren kaum zu verhüten ist, und es an andern, welche diese Wißbegierde befriedigen zu können mit vieler Zuversicht versprechen, nie fehlen wird: so muß das bloß negative (welches die eigentliche Aufklärung ausmacht) in der Denkungsart (zumal der öffentlichen) zu erhalten oder herzustellen sehr schwer sein. | |||||||
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