Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 284 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | § 33. |
||||||
02 | Zweite Eigenthümlichkeit des Geschmacksurtheils. |
||||||
03 | Das Geschmacksurtheil ist gar nicht durch Beweisgründe bestimmbar, | ||||||
04 | gleich als ob es bloß subjectiv wäre. | ||||||
05 | Wenn jemand ein Gebäude, eine Aussicht, ein Gedicht nicht schön | ||||||
06 | findet, so läßt er sich erstlich den Beifall nicht durch hundert Stimmen, | ||||||
07 | die es alle hoch preisen, innerlich aufdringen. Er mag sich zwar stellen, | ||||||
08 | als ob es ihm auch gefalle, um nicht für geschmacklos angesehen zu werden; | ||||||
09 | er kann sogar zu zweifeln anfangen, ob er seinen Geschmack durch | ||||||
10 | Kenntniß einer genugsamen Menge von Gegenständen einer gewissen Art | ||||||
11 | auch genug gebildet habe (wie einer, der in der Entfernung etwas für | ||||||
12 | einen Wald zu erkennen glaubt, was alle andere für eine Stadt ansehen, | ||||||
13 | an dem Urtheile seines eigenen Gesichts zweifelt). Das sieht er aber doch | ||||||
14 | klar ein: daß der Beifall anderer gar keinen für die Beurtheilung der | ||||||
15 | Schönheit gültigen Beweis abgebe; daß andere allenfalls für ihn sehen | ||||||
16 | und beobachten mögen, und was viele auf einerlei Art gesehen haben, als | ||||||
17 | ein hinreichender Beweisgrund für ihn, der es anders gesehen zu haben | ||||||
18 | glaubt, zum theoretischen, mithin logischen, niemals aber das, was andern | ||||||
19 | gefallen hat, zum Grunde eines ästhetischen Urtheils dienen könne. Das | ||||||
20 | uns ungünstige Urtheil anderer kann uns zwar mit Recht in Ansehung | ||||||
21 | des unsrigen bedenklich machen, niemals aber von der Unrichtigkeit desselben | ||||||
22 | überzeugen. Also giebt es keinen empirischen Beweisgrund, | ||||||
23 | das Geschmacksurtheil jemanden abzunöthigen. | ||||||
24 | Zweitens kann noch weniger ein Beweis a priori nach bestimmten | ||||||
25 | Regeln das Urtheil über Schönheit bestimmen. Wenn mir jemand sein | ||||||
26 | Gedicht vorliest, oder mich in ein Schauspiel führt, welches am Ende | ||||||
27 | meinem Geschmacke nicht behagen will, so mag er den Batteux oder | ||||||
28 | Lessing, oder noch ältere und berühmtere Kritiker des Geschmacks und | ||||||
29 | alle von ihnen aufgestellte Regeln zum Beweise anführen, daß sein Gedicht | ||||||
30 | schön sei; auch mögen gewisse Stellen, die mir eben mißfallen, mit | ||||||
31 | Regeln der Schönheit (so wie sie dort gegeben und allgemein anerkannt | ||||||
32 | sind) gar wohl zusammenstimmen: ich stopfe mir die Ohren zu, mag keine | ||||||
33 | Gründe und kein Vernünfteln hören und werde eher annehmen, daß jene | ||||||
34 | Regeln der Kritiker falsch seien, oder wenigstens hier nicht der Fall ihrer | ||||||
35 | Anwendung sei, als daß ich mein Urtheil durch Beweisgründe a priori | ||||||
[ Seite 283 ] [ Seite 285 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |