Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 283 |
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01 | sagen, daß die alten Mathematiker, die bis jetzt für nicht wohl zu entbehrende | ||||||
02 | Muster der höchsten Gründlichkeit und Eleganz der synthetischen | ||||||
03 | Methode gehalten werden, auch eine nachahmende Vernunft auf unserer | ||||||
04 | Seite bewiesen und ein Unvermögen derselben, aus sich selbst strenge Beweise | ||||||
05 | mit der größten Intuition durch Construction der Begriffe hervorzubringen. | ||||||
06 | Es giebt gar keinen Gebrauch unserer Kräfte, so frei er auch | ||||||
07 | sein mag, und selbst der Vernunft (die alle ihre Urtheile aus der gemeinschaftlichen | ||||||
08 | Quelle a priori schöpfen muß)? Welcher, wenn jedes Subject | ||||||
09 | immer gänzlich von der rohen Anlage seines Naturells anfangen sollte, | ||||||
10 | nicht in fehlerhafte Versuche gerathen würde, wenn nicht andere mit den | ||||||
11 | ihrigen ihm vorgegangen wären, nicht um die Nachfolgenden zu bloßen | ||||||
12 | Nachahmern zu machen, sondern durch ihr Verfahren andere auf die Spur | ||||||
13 | zu bringen, um die Principien in sich selbst zu suchen und so ihren eigenen, | ||||||
14 | oft besseren Gang zu nehmen. Selbst in der Religion, wo gewiß ein jeder | ||||||
15 | die Regel seines Verhaltens aus sich selbst hernehmen muß, weil er dafür | ||||||
16 | auch selbst verantwortlich bleibt und die Schuld seiner Vergehungen nicht | ||||||
17 | auf andre als Lehrer oder Vorgänger schieben kann, wird doch nie durch | ||||||
18 | allgemeine Vorschriften, die man entweder von Priestern oder Philosophen | ||||||
19 | bekommen, oder auch aus sich selbst genommen haben mag, so viel ausgerichtet | ||||||
20 | werden, als durch ein Beispiel der Tugend oder Heiligkeit, welches, | ||||||
21 | in der Geschichte aufgestellt, die Autonomie der Tugend aus der eigenen | ||||||
22 | und ursprünglichen Idee der Sittlichkeit (a priori) nicht entbehrlich macht, | ||||||
23 | oder diese in einen Mechanism der Nachahmung verwandelt. Nachfolge, | ||||||
24 | die sich auf einen Vorgang bezieht, nicht Nachahmung ist der rechte Ausdruck | ||||||
25 | für allen Einfluß, welchen Producte eines exemplarischen Urhebers | ||||||
26 | auf andere haben können; welches nur so viel bedeutet als: aus denselben | ||||||
27 | Quellen schöpfen, woraus jener selbst schöpfte, und seinem Vorgänger nur | ||||||
28 | die Art, sich dabei zu benehmen, ablernen. Aber unter allen Vermögen | ||||||
29 | und Talenten ist der Geschmack gerade dasjenige, welches, weil sein Urtheil | ||||||
30 | nicht durch Begriffe und Vorschriften bestimmbar ist, am meisten | ||||||
31 | der Beispiele dessen, was sich im Fortgange der Cultur am längsten in | ||||||
32 | Beifall erhalten hat, bedürftig ist, um nicht bald wieder ungeschlacht zu | ||||||
33 | werden und in die Rohigkeit der ersten Versuche zurückzufallen. | ||||||
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