Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 274 |
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01 | des Wohlbefindens aus dem hergestellten Gleichgewichte der mancherlei | ||||||
02 | Lebenskräfte in uns: welcher am Ende auf dasselbe hinausläuft, als | ||||||
03 | derjenige, den die Wollüstlinge des Orients so behaglich finden, wenn sie | ||||||
04 | ihren Körper gleichsam durchkneten und alle ihre Muskeln und Gelenke | ||||||
05 | sanft drücken und biegen lassen; nur daß dort das bewegende Princip größtentheils | ||||||
06 | in uns, hier hingegen gänzlich außer uns ist. Da glaubt sich | ||||||
07 | nun mancher durch eine Predigt erbaut, in dem doch nichts aufgebauet | ||||||
08 | (kein System guter Maximen) ist; oder durch ein Trauerspiel gebessert, | ||||||
09 | der bloß über glücklich vertriebne Langeweile froh ist. Also muß das Erhabene | ||||||
10 | jederzeit Beziehung auf die Denkungsart haben, d. i. auf Maximen, | ||||||
11 | dem Intellectuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit | ||||||
12 | Obermacht zu verschaffen. | ||||||
13 | Man darf nicht besorgen, daß das Gefühl des Erhabenen durch eine | ||||||
14 | dergleichen abgezogene Darstellungsart, die in Ansehung des Sinnlichen | ||||||
15 | gänzlich negativ wird, verlieren werde; denn die Einbildungskraft, ob sie | ||||||
16 | zwar über das Sinnliche hinaus nichts findet, woran sie sich halten kann, | ||||||
17 | fühlt sich doch auch eben durch diese Wegschaffung der Schranken derselben | ||||||
18 | unbegränzt: und jene Absonderung ist also eine Darstellung des Unendlichen, | ||||||
19 | welche zwar eben darum niemals anders als bloß negative Darstellung | ||||||
20 | sein kann, die aber doch die Seele erweitert. Vielleicht giebt es | ||||||
21 | keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: du | ||||||
22 | sollst dir kein Bildniß machen, noch irgend ein Gleichniß, weder dessen, | ||||||
23 | was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u. s. w.. | ||||||
24 | Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk | ||||||
25 | in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern | ||||||
26 | Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism | ||||||
27 | einflößt. Eben dasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen | ||||||
28 | Gesetzes und der Anlage zur Moralität in uns. Es ist eine ganz irrige | ||||||
29 | Besorgniß, daß, wenn man sie alles dessen beraubt, was sie den Sinnen | ||||||
30 | empfehlen kann, sie alsdann keine andere als kalte, leblose Billigung und | ||||||
31 | keine bewegende Kraft oder Rührung bei sich führen würde. Es ist gerade | ||||||
32 | umgekehrt; denn da, wo nun die Sinne nichts mehr vor sich sehen, | ||||||
33 | und die unverkennliche und unauslöschliche Idee der Sittlichkeit dennoch | ||||||
34 | übrig bleibt, würde es eher nöthig sein, den Schwung einer unbegränzten | ||||||
35 | Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthusiasm steigen | ||||||
36 | zu lassen, als aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Ideen für sie in Bildern | ||||||
37 | und kindischem Apparat Hülfe zu suchen. Daher haben auch die Regierungen | ||||||
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