Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 235 |
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01 | aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben scheint. Sie ist keinesweges | ||||||
02 | das ganze Urbild der Schönheit in dieser Gattung, sondern nur | ||||||
03 | die Form, welche die unnachlaßliche Bedingung aller Schönheit ausmacht, | ||||||
04 | mithin bloß die Richtigkeit in Darstellung der Gattung. Sie ist, wie | ||||||
05 | man Polyklets berühmten Doryphorus nannte, die Regel (eben dazu | ||||||
06 | konnte auch Myrons Kuh in ihrer Gattung gebraucht werden). Sie kann | ||||||
07 | eben darum auch nichts Specifisch=Charakteristisches enthalten; denn sonst | ||||||
08 | wäre sie nicht Normalidee für die Gattung. Ihre Darstellung gefällt | ||||||
09 | auch nicht durch Schönheit, sondern bloß weil sie keiner Bedingung, unter | ||||||
10 | welcher allein ein Ding dieser Gattung schön sein kann, widerspricht. Die | ||||||
11 | Darstellung ist bloß schulgerecht.*) | ||||||
12 | Von der Normalidee des Schönen ist doch noch das Ideal desselben | ||||||
13 | unterschieden, welches man lediglich an der menschlichen Gestalt aus | ||||||
14 | schon angeführten Gründen erwarten darf. An dieser nun besteht das | ||||||
15 | Ideal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne welches der Gegenstand | ||||||
16 | nicht allgemein und dazu positiv (nicht bloß negativ in einer schulgerechten | ||||||
17 | Darstellung) gefallen würde. Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die | ||||||
18 | den Menschen innerlich beherrschen, kann zwar nur aus der Erfahrung | ||||||
19 | genommen werden; aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere | ||||||
20 | Vernunft mit dem Sittlich=Guten in der Idee der höchsten Zweckmäßigkeit | ||||||
21 | verknüpft, die Seelengüte, oder Reinigkeit, oder Stärke oder Ruhe u. s. w. | ||||||
22 | in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Innern) gleichsam sichtbar zu | ||||||
23 | machen: dazu gehören reine Ideen der Vernunft und große Macht der | ||||||
24 | Einbildungskraft in demjenigen vereinigt, welcher sie nur beurtheilen, vielmehr | ||||||
25 | noch wer sie darstellen will. Die Richtigkeit eines solchen Ideals | ||||||
*)Man wird finden, daß ein vollkommen regelmäßiges Gesicht, welches der Maler ihm zum Modell zu sitzen bitten möchte, gemeiniglich nichts sagt: weil es nichts Charakteristisches enthält, also mehr die Idee der Gattung, als das Specifische einer Person ausdrückt. Das Charakteristische von dieser Art, was übertrieben ist, d. i. welches der Normalidee (der Zweckmäßigkeit der Gattung) selbst Abbruch thut, heißt Caricatur. Auch zeigt die Erfahrung, daß jene ganz regelmäßigen Gesichter im Innern gemeiniglich auch nur einen mittelmäßigen Menschen verrathen; vermuthlich (wenn angenommen werden darf, daß die Natur im Äußeren die Proportionen des inneren ausdrücke) deswegen: weil, wenn keine von den Gemüthsanlagen über diejenige Proportion hervorstechend ist, die erfordert wird, bloß einen fehlerfreien Menschen auszumachen, nichts von dem, was man Genie nennt, erwartet werden darf, in welchem die Natur von ihren gewöhnlichen Verhältnissen der Gemüthskräfte zum Vortheil einer einzigen abzugehen scheint. | |||||||
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