Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 234

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von      
  02 langer Zeit her, zurückzurufen; sondern auch das Bild und die Gestalt des      
  03 Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener      
  04 Arten oder auch einer und derselben Art zu reproduciren; ja      
  05 auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen      
  06 nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild      
  07 gleichsam auf das andere fallen zu lassen und durch die Congruenz der      
  08 mehrern von derselben Art ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches      
  09 allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tausend erwachsene      
  10 Mannspersonen gesehen. Will er nun über die Vergleichungsweise zu      
  11 schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft      
  12 eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf      
  13 einander fallen; und wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der      
  14 optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen,      
  15 und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten      
  16 aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich,      
  17 die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Gränzen der      
  18 größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die      
  19 Statur für einen schönen Mann. (Man könnte ebendasselbe mechanisch      
  20 heraus bekommen, wenn man alle tausend mäße, ihre Höhen unter sich      
  21 und Breiten (und Dicken) für sich zusammen addirte und die Summe      
  22 durch tausend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut eben dieses durch      
  23 einen dynamischen Effect, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten      
  24 auf das Organ des innern Sinnes entspringt.) Wenn nun auf      
  25 ähnliche Art für diesen mittlern Mann der mittlere Kopf, für diesen die      
  26 mittlere Nase u. s. w. gesucht wird, so liegt diese Gestalt der Normalidee      
  27 des schönen Mannes in dem Lande, wo diese Vergleichung angestellt wird,      
  28 zum Grunde; daher ein Neger nothwendig unter diesen empirischen Bedingungen      
  29 eine andere Normalidee der Schönheit der Gestalt haben muß,      
  30 als ein Weißer, der Chinese eine andere, als der Europäer. Mit dem      
  31 Muster eines schönen Pferdes oder Hundes (von gewisser Race) würde      
  32 es eben so gehen. - Diese Normalidee ist nicht aus von der Erfahrung      
  33 hergenommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet;      
  34 sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie      
  35 ist das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen Anschauungen      
  36 der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches      
  37 die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Species unterlegte,      
           
     

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