Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 155 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | künftigen Lebenswandel eine gute Grundlage ausmachen würden. Nur | ||||||
02 | wünsche ich sie mit Beispielen sogenannter edler (überverdienstlicher) | ||||||
03 | Handlungen, mit welchen unsere empfindsame Schriften so viel um sich | ||||||
04 | werfen, zu verschonen und alles blos auf Pflicht und den Werth, den ein | ||||||
05 | Mensch sich in seinen eigenen Augen durch das Bewußtsein, sie nicht übertreten | ||||||
06 | zu haben, geben kann und muß, auszusetzen, weil, was auf leere | ||||||
07 | Wünsche und Sehnsuchten nach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft, | ||||||
08 | lauter Romanhelden hervorbringt, die, indem sie sich auf ihr Gefühl | ||||||
09 | für das überschwenglich Große viel zu Gute thun, sich dafür von der Beobachtung | ||||||
10 | der gemeinen und gangbaren Schuldigkeit, die alsdann ihnen | ||||||
11 | nur unbedeutend klein scheint, frei sprechen.*) | ||||||
12 | Wenn man aber frägt, was denn eigentlich die reine Sittlichkeit ist, | ||||||
13 | an der als dem Probemetall man jeder Handlung moralischen Gehalt | ||||||
14 | prüfen müsse, so muß ich gestehen, daß nur Philosophen die Entscheidung | ||||||
15 | dieser Frage zweifelhaft machen können; denn in der gemeinen Menschenvernunft | ||||||
16 | ist sie, zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber | ||||||
17 | doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied | ||||||
18 | zwischen der rechten und der linken Hand, längst entschieden. Wir wollen also | ||||||
19 | vorerst das Prüfungsmerkmal der reinen Tugend an einem Beispiele zeigen | ||||||
20 | und, indem wir uns vorstellen, daß es etwa einem zehnjährigen Knaben | ||||||
21 | zur Beurtheilung vorgelegt worden, sehen, ob er auch von selber, ohne | ||||||
22 | durch den Lehrer dazu angewiesen zu sein, nothwendig so urtheilen müßte. | ||||||
23 | Man erzähle die Geschichte eines redlichen Mannes, den man bewegen | ||||||
24 | will, den Verleumdern einer unschuldigen, übrigens nichts vermögenden | ||||||
25 | Person (wie etwa Anna von Bolen auf Anklage Heinrich 8. von England) | ||||||
26 | beizutreten. Man bietet Gewinne, d. i. große Geschenke oder hohen | ||||||
27 | Rang, an, er schlägt sie aus. Dieses wird bloßen Beifall und Billigung | ||||||
*)Handlungen, aus denen große, uneigennützige, theilnehmende Gesinnung und Menschlichkeit hervorleuchtet, zu preisen, ist ganz rathsam. Aber man muß hier nicht sowohl auf Seelenerhebung, die sehr flüchtig und vorübergehend ist, als vielmehr auf die Herzensunterwerfung unter Pflicht, wovon ein längerer Eindruck erwartet werden kann, weil sie Grundsätze (jene aber nur Aufwallungen) mit sich führt, aufmerksam machen. Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich irgend wodurch in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein, daß man durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung Vortheile genießt, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen), um durch die eigenliebige Einbildung des Verdienstlichen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen. | |||||||
[ Seite 154 ] [ Seite 156 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |