Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 154

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 diesen Werth anzufechten. Doch kann man den letzteren nicht immer die      
  02 Absicht beimessen, Tugend aus allen Beispielen der Menschen gänzlich      
  03 wegvernünfteln zu wollen, um sie dadurch zum leeren Namen zu machen,      
  04 sondern es ist oft nur wohlgemeinte Strenge in Bestimmung des ächten      
  05 sittlichen Gehalts nach einem unnachsichtlichen Gesetze, mit welchem und      
  06 nicht mit Beispielen verglichen der Eigendünkel im Moralischen sehr sinkt,      
  07 und Demuth nicht etwa blos gelehrt, sondern bei scharfer Selbstprüfung      
  08 von jedem gefühlt wird. Dennoch kann man den Vertheidigern der Reinigkeit      
  09 der Absicht in gegebenen Beispielen es mehrentheils ansehen, daß sie      
  10 ihr da, wo sie die Vermuthung der Rechtschaffenheit für sich hat, auch den      
  11 mindesten Fleck gerne abwischen möchten, aus dem Bewegungsgrunde,      
  12 damit nicht, wenn allen Beispielen ihre Wahrhaftigkeit gestritten und      
  13 aller menschlichen Tugend die Lauterkeit weggeleugnet würde, diese nicht      
  14 endlich gar für ein bloßes Hirngespinst gehalten und so alle Bestrebung      
  15 zu derselben als eitles Geziere und trüglicher Eigendünkel geringschätzig      
  16 gemacht werde.      
           
  17 Ich weiß nicht, warum die Erzieher der Jugend von diesem Hange      
  18 der Vernunft, in aufgeworfenen praktischen Fragen selbst die subtilste      
  19 Prüfung mit Vergnügen einzuschlagen, nicht schon längst Gebrauch gemacht      
  20 haben, und, nachdem sie einen blos moralischen Katechism zum      
  21 Grunde legten, sie nicht die Biographien alter und neuer Zeiten in der      
  22 Absicht durchsuchten, um Beläge zu den vorgelegten Pflichten bei der Hand      
  23 zu haben, an denen sie vornehmlich durch die Vergleichung ähnlicher Handlungen      
  24 unter verschiedenen Umständen die Beurtheilung ihrer Zöglinge      
  25 in Thätigkeit setzten, um den mindern oder größeren moralischen Gehalt      
  26 derselben zu bemerken, als worin sie selbst die frühe Jugend, die zu aller      
  27 Speculation sonst noch unreif ist, bald sehr scharfsichtig und dabei, weil      
  28 sie den Fortschritt ihrer Urtheilskraft fühlt, nicht wenig interessirt finden      
  29 werden, was aber das Vornehmste ist, mit Sicherheit hoffen können, daß      
  30 die öftere Übung, das Wohlverhalten in seiner ganzen Reinigkeit zu kennen      
  31 und ihm Beifall zu geben, dagegen selbst die kleinste Abweichung von ihr      
  32 mit Bedauern oder Verachtung zu bemerken, ob es zwar bis dahin nur      
  33 als ein Spiel der Urtheilskraft, in welchem Kinder mit einander wetteifern      
  34 können, getrieben wird, dennoch einen dauerhaften Eindruck der      
  35 Hochschätzung auf der einen und des Abscheues auf der andern Seite      
  36 zurücklassen werde, welche durch bloße Gewohnheit, solche Handlungen als      
  37 beifalls= oder tadelswürdig öfters anzusehen, zur Rechtschaffenheit im      
           
     

[ Seite 153 ] [ Seite 155 ] [ Inhaltsverzeichnis ]