Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 153 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | durch Beobachtungen, die ein jeder anstellen kann, beweisen; wobei doch | ||||||
02 | zugleich erinnert werden muß, daß, wenn diese Beobachtungen nur die | ||||||
03 | Wirklichkeit eines solchen Gefühls, nicht aber dadurch zu Stande gebrachte | ||||||
04 | sittliche Besserung beweisen, dieses der einzigen Methode, die objectiv | ||||||
05 | praktischen Gesetze der reinen Vernunft durch bloße reine Vorstellung der | ||||||
06 | Pflicht subjectiv praktisch zu machen, keinen Abbruch thue, gleich als ob | ||||||
07 | sie eine leere Phantasterei wäre. Denn da diese Methode noch niemals in | ||||||
08 | Gang gebracht worden, so kann auch die Erfahrung noch nichts von ihrem | ||||||
09 | Erfolg aufzeigen, sondern man kann nur Beweisthümer der Empfänglichkeit | ||||||
10 | solcher Triebfedern fordern, die ich jetzt kürzlich vorlegen und darnach | ||||||
11 | die Methode der Gründung und Cultur ächter moralischer Gesinnungen | ||||||
12 | mit wenigem entwerfen will. | ||||||
13 | Wenn man auf den Gang der Gespräche in gemischten Gesellschaften, | ||||||
14 | die nicht blos aus Gelehrten und Vernünftlern, sondern auch aus Leuten | ||||||
15 | von Geschäften oder Frauenzimmer bestehen, Acht hat, so bemerkt man, | ||||||
16 | daß außer dem Erzählen und Scherzen noch eine Unterhaltung, nämlich | ||||||
17 | das Räsonniren, darin Platz findet: weil das erstere, wenn es Neuigkeit | ||||||
18 | und mit ihr Interesse bei sich führen soll, bald erschöpft, das zweite aber | ||||||
19 | leicht schal wird. Unter allem Räsonniren ist aber keines, was mehr den | ||||||
20 | Beitritt der Personen, die sonst bei allem Vernünfteln bald lange Weile | ||||||
21 | haben, erregt und eine gewisse Lebhaftigkeit in die Gesellschaft bringt, als | ||||||
22 | das über den sittlichen Werth dieser oder jener Handlung, dadurch der | ||||||
23 | Charakter irgend einer Person ausgemacht werden soll. Diejenige, welchen | ||||||
24 | sonst alles Subtile und Grüblerische in theoretischen Fragen trocken und | ||||||
25 | verdrießlich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, den moralischen | ||||||
26 | Gehalt einer erzählten guten oder bösen Handlung auszumachen, und sind | ||||||
27 | so genau, so grüblerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Absicht | ||||||
28 | und mithin den Grad der Tugend in derselben vermindern, oder auch nur | ||||||
29 | verdächtig machen könnte, auszusinnen, als man bei keinem Objecte der | ||||||
30 | Speculation sonst von ihnen erwartet. Man kann in diesen Beurtheilungen | ||||||
31 | oft den Charakter der über andere urtheilenden Personen selbst hervorschimmern | ||||||
32 | sehen, deren einige vorzüglich geneigt scheinen, indem sie ihr | ||||||
33 | Richteramt vornehmlich über Verstorbene ausüben, das Gute, was von | ||||||
34 | dieser oder jener That derselben erzählt wird, wider alle kränkende Einwürfe | ||||||
35 | der Unlauterkeit und zuletzt den ganzen sittlichen Werth der Person | ||||||
36 | wider den Vorwurf der Verstellung und geheimen Bösartigkeit zu vertheidigen, | ||||||
37 | andere dagegen mehr auf Anklagen und Beschuldigungen sinnen, | ||||||
[ Seite 152 ] [ Seite 154 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |