Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 118

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Zufriedenheit, und diese kann intellectuell heißen. Die ästhetische      
  02 (die uneigentlich so genannt wird), welche auf der Befriedigung der      
  03 Neigungen, so fein sie auch immer ausgeklügelt werden mögen, beruht,      
  04 kann niemals dem, was man sich darüber denkt, adäquat sein. Denn die      
  05 Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren      
  06 läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man      
  07 auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit      
  08 lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen      
  09 sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. Selbst eine Neigung      
  10 zum Pflichtmäßigen (z. B. zur Wohlthätigkeit) kann zwar die Wirksamkeit      
  11 der moralischen Maximen sehr erleichtern, aber keine hervorbringen.      
  12 Denn alles muß in dieser auf der Vorstellung des Gesetzes als Bestimmungsgrunde      
  13 angelegt sein, wenn die Handlung nicht blos Legalität,      
  14 sondern auch Moralität enthalten soll. Neigung ist blind und knechtisch,      
  15 sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit      
  16 ankommt, muß nicht blos den Vormund derselben vorstellen, sondern,      
  17 ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr      
  18 eigenes Interesse ganz allein besorgen. Selbst dies Gefühl des Mitleids      
  19 und der weichherzigen Theilnehmung, wenn es vor der Überlegung, was      
  20 Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund wird, ist wohldenkenden      
  21 Personen selbst lästig, bringt ihre überlegte Maximen in Verwirrung und      
  22 bewirkt den Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzgebenden Vernunft      
  23 unterworfen zu sein.      
           
  24 Hieraus läßt sich verstehen: wie das Bewußtsein dieses Vermögens      
  25 einer reinen praktischen Vernunft durch That (die Tugend) ein Bewußtsein      
  26 der Obermacht über seine Neigungen, hiemit also der Unabhängigkeit von      
  27 denselben, folglich auch der Unzufriedenheit, die diese immer begleitet, und      
  28 also ein negatives Wohlgefallen mit seinem Zustande, d. i. Zufriedenheit,      
  29 hervorbringen könne, welche in ihrer Quelle Zufriedenheit mit seiner      
  30 Person ist. Die Freiheit selbst wird auf solche Weise (nämlich indirect)      
  31 eines Genusses fähig, welcher nicht Glückseligkeit heißen kann, weil er      
  32 nicht vom positiven Beitritt eines Gefühls abhängt, auch genau zu reden      
  33 nicht Seligkeit, weil er nicht gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen      
  34 und Bedürfnissen enthält, der aber doch der letztern ähnlich ist, so fern      
  35 nämlich wenigstens seine Willensbestimmung sich von ihrem Einflusse frei      
  36 halten kann, und also wenigstens seinem Ursprunge nach der Selbstgenugsamkeit      
  37 analogisch ist, die man nur dem höchsten Wesen beilegen kann.      
           
           
     

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