Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 116 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | fiel der tugendhafte Epikur, so wie noch jetzt viele moralisch wohlgesinnte, | ||||||
02 | obgleich über ihre Principien nicht tief genug nachdenkende | ||||||
03 | Männer, in den Fehler, die tugendhafte Gesinnung in den Personen | ||||||
04 | schon vorauszusetzen, für die er die Triebfeder zur Tugend zuerst angeben | ||||||
05 | wollte (und in der That kann der Rechtschaffene sich nicht glücklich finden, | ||||||
06 | wenn er sich nicht zuvor seiner Rechtschaffenheit bewußt ist: weil bei jener | ||||||
07 | Gesinnung die Verweise, die er bei Übertretungen sich selbst zu machen | ||||||
08 | durch seine eigene Denkungsart genöthigt sein würde, und die moralische | ||||||
09 | Selbstverdammung ihn alles Genusses der Annehmlichkeit, die sonst sein | ||||||
10 | Zustand enthalten mag, berauben würden). Allein die Frage ist: wodurch | ||||||
11 | wird eine solche Gesinnung und Denkungsart, den Werth seines | ||||||
12 | Daseins zu schätzen, zuerst möglich, da vor derselben noch gar kein Gefühl | ||||||
13 | für einen moralischen Werth überhaupt im Subjecte angetroffen werden | ||||||
14 | würde? Der Mensch wird, wenn er tugendhaft ist, freilich, ohne sich in | ||||||
15 | jeder Handlung seiner Rechtschaffenheit bewußt zu sein, des Lebens nicht | ||||||
16 | froh werden, so günstig ihm auch das Glück im physischen Zustande desselben | ||||||
17 | sein mag; aber um ihn allererst tugendhaft zu machen, mithin ehe | ||||||
18 | er noch den moralischen Werth seiner Existenz so hoch anschlägt, kann man | ||||||
19 | ihm da wohl die Seelenruhe anpreisen, die aus dem Bewußtsein einer | ||||||
20 | Rechtschaffenheit entspringen werde, für die er doch keinen Sinn hat? | ||||||
21 | Andrerseits aber liegt hier immer der Grund zu einem Fehler des | ||||||
22 | Erschleichens ( vitium subreptionis ) und gleichsam einer optischen Illusion | ||||||
23 | in dem Selbstbewußtsein dessen, was man thut, zum Unterschiede dessen, | ||||||
24 | was man empfindet, die auch der Versuchteste nicht völlig vermeiden | ||||||
25 | kann. Die moralische Gesinnung ist mit einem Bewußtsein der Bestimmung | ||||||
26 | des Willens unmittelbar durchs Gesetz nothwendig verbunden. | ||||||
27 | Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens | ||||||
28 | immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht | ||||||
29 | wird; aber diese Lust, dieses Wohlgefallen an sich selbst, ist | ||||||
30 | nicht der Bestimmungsgrund der Handlung, sondern die Bestimmung | ||||||
31 | des Willens unmittelbar, blos durch die Vernunft, ist der Grund des Gefühls | ||||||
32 | der Lust, und jene bleibt eine reine praktische, nicht ästhetische Bestimmung | ||||||
33 | des Begehrungsvermögens. Da diese Bestimmung nun innerlich | ||||||
34 | gerade dieselbe Wirkung eines Antriebs zur Thätigkeit thut, als ein | ||||||
35 | Gefühl der Annehmlichkeit, die aus der begehrten Handlung erwartet | ||||||
36 | wird, würde gethan haben, so sehen wir das, was wir selbst thun, leichtlich | ||||||
37 | für etwas an, was wir blos leidentlich fühlen, und nehmen die moralische | ||||||
[ Seite 115 ] [ Seite 117 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |