Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 106 |
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01 | selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das | ||||||
02 | Wesen, das sich dieses Gesetz bewußt ist, (unsere eigene Person) als zur | ||||||
03 | reinen Verstandeswelt gehörig und zwar sogar mit Bestimmung der Art, | ||||||
04 | wie es als ein solches thätig sein könne, erkennt. So läßt es sich begreifen, | ||||||
05 | warum in dem ganzen Vernunftvermögen nur das Praktische dasjenige | ||||||
06 | sein könne, welches uns über die Sinnenwelt hinaushilft und Erkenntnisse | ||||||
07 | von einer übersinnlichen Ordnung und Verknüpfung verschaffe, die | ||||||
08 | aber eben darum freilich nur so weit, als es gerade für die reine praktische | ||||||
09 | Absicht nöthig ist, ausgedehnt werden können. | ||||||
10 | Nur auf eines sei es mir erlaubt bei dieser Gelegenheit noch aufmerksam | ||||||
11 | zu machen, nämlich daß jeder Schritt, den man mit der reinen | ||||||
12 | Vernunft thut, sogar im praktischen Felde, wo man auf subtile Speculation | ||||||
13 | gar nicht Rücksicht nimmt, dennoch sich so genau und zwar von | ||||||
14 | selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe, | ||||||
15 | als ob jeder mit überlegter Vorsicht, blos um dieser Bestätigung zu verschaffen, | ||||||
16 | ausgedacht wäre. Eine solche auf keinerlei Weise gesuchte, sondern | ||||||
17 | (wie man sich selbst davon überzeugen kann, wenn man nur die moralischen | ||||||
18 | Nachforschungen bis zu ihren Principien fortsetzen will) sich von | ||||||
19 | selbst findende genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen | ||||||
20 | Vernunft mit den oft zu subtil und unnöthig scheinenden Bemerkungen | ||||||
21 | der Kritik der speculativen überrascht und setzt in Verwunderung und bestärkt | ||||||
22 | die schon von andern erkannte und gepriesene Maxime, in jeder | ||||||
23 | wissenschaftlichen Untersuchung mit aller möglichen Genauigkeit und | ||||||
24 | Offenheit seinen Gang ungestört fortzusetzen, ohne sich an das zu kehren, | ||||||
25 | wowider sie außer ihrem Felde etwa verstoßen möchte, sondern sie für sich | ||||||
26 | allein, so viel man kann, wahr und vollständig zu vollführen. Öftere Beobachtung | ||||||
27 | hat mich überzeugt, daß, wenn man dieses Geschäfte zu Ende | ||||||
28 | gebracht hat, das, was in der Hälfte desselben in Betracht anderer Lehren | ||||||
29 | außerhalb mir bisweilen sehr bedenklich schien, wenn ich diese Bedenklichkeit | ||||||
30 | nur so lange aus den Augen ließ und blos auf mein Geschäft Acht | ||||||
31 | hatte, bis es vollendet sei, endlich auf unerwartete Weise mit demjenigen | ||||||
32 | vollkommen zusammenstimmte, was sich ohne die mindeste Rücksicht auf | ||||||
33 | jene Lehren, ohne Parteilichkeit und Vorliebe für dieselbe von selbst gefunden | ||||||
34 | hatte. Schriftsteller würden sich manche Irrthümer, manche verlorne | ||||||
35 | Mühe (weil sie auf Blendwerk gestellt war) ersparen, wenn sie sich | ||||||
36 | nur entschließen könnten, mit etwas mehr Offenheit zu Werke zu gehen. | ||||||
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