Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 088 |
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01 | selbst aus einem verdrießlichen Handel ziehen, oder wohl gar einem geliebten | ||||||
02 | und verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte, blos darum | ||||||
03 | unterließ, um sich ingeheim in seinen eigenen Augen nicht verachten zu | ||||||
04 | dürfen? Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größten Unglücke des | ||||||
05 | Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht | ||||||
06 | wegsetzen können, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in | ||||||
07 | seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich | ||||||
08 | nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung | ||||||
09 | zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost ist nicht Glückseligkeit, auch nicht | ||||||
10 | der mindeste Theil derselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheit | ||||||
11 | dazu, auch vielleicht nicht einmal ein Leben in solchen Umständen wünschen. | ||||||
12 | Aber er lebt und kann es nicht erdulden, in seinen eigenen Augen des | ||||||
13 | Lebens unwürdig zu sein. Diese innere Beruhigung ist also blos negativ | ||||||
14 | in Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; nämlich | ||||||
15 | sie ist die Abhaltung der Gefahr, im persönlichen Werthe zu sinken, nachdem | ||||||
16 | der seines Zustandes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden. Sie | ||||||
17 | ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz anderes als das Leben, | ||||||
18 | womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben vielmehr mit aller | ||||||
19 | seiner Annehmlichkeit gar keinen Werth hat. Er lebt nur noch aus Pflicht, | ||||||
20 | nicht weil er am Leben den mindesten Geschmack findet. | ||||||
21 | So ist die ächte Triebfeder der reinen praktischen Vernunft beschaffen; | ||||||
22 | sie ist keine andere als das reine moralische Gesetz selber, so fern es uns | ||||||
23 | die Erhabenheit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spüren läßt und | ||||||
24 | subjectiv in Menschen, die sich zugleich ihres sinnlichen Daseins und der | ||||||
25 | damit verbundenen Abhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch afficirten | ||||||
26 | Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhere Bestimmung wirkt. | ||||||
27 | Nun lassen sich mit dieser Triebfeder gar wohl so viele Reize und Annehmlichkeiten | ||||||
28 | des Lebens verbinden, daß auch um dieser willen allein | ||||||
29 | schon die klügste Wahl eines vernünftigen und über das größte Wohl des | ||||||
30 | Lebens nachdenkenden Epikureers sich für das sittliche Wohlverhalten | ||||||
31 | erklären würde, und es kann auch rathsam sein, diese Aussicht auf einen | ||||||
32 | fröhlichen Genuß des Lebens mit jener obersten und schon für sich allein | ||||||
33 | hinlänglich bestimmenden Bewegursache zu verbinden; aber nur um den | ||||||
34 | Anlockungen, die das Laster auf der Gegenseite vorzuspiegeln nicht ermangelt, | ||||||
35 | das Gegengewicht zu halten, nicht um hierin die eigentliche bewegende | ||||||
36 | Kraft, auch nicht dem mindesten Theile nach, zu setzen, wenn von | ||||||
37 | Pflicht die Rede ist. Denn das würde so viel sein, als die moralische Gesinnung | ||||||
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