Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 084 |
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| 01 | nicht ganz gern thut. Zu dieser Stufe der moralischen Gesinnung aber | ||||||
| 02 | kann es ein Geschöpf niemals bringen. Denn da es ein Geschöpf, mithin | ||||||
| 03 | in Ansehung dessen, was es zur gänzlichen Zufriedenheit mit seinem Zustande | ||||||
| 04 | fordert, immer abhängig ist, so kann es niemals von Begierden | ||||||
| 05 | und Neigungen ganz frei sein, die, weil sie auf physischen Ursachen beruhen, | ||||||
| 06 | mit dem moralischen Gesetze, das ganz andere Quellen hat, nicht | ||||||
| 07 | von selbst stimmen, mithin es jederzeit nothwendig machen, in Rücksicht | ||||||
| 08 | auf dieselbe die Gesinnung seiner Maximen auf moralische Nöthigung, | ||||||
| 09 | nicht auf bereitwillige Ergebenheit, sondern auf Achtung, welche die Befolgung | ||||||
| 10 | des Gesetzes, obgleich sie ungerne geschähe, fordert, nicht auf Liebe, | ||||||
| 11 | die keine innere Weigerung des Willens gegen das Gesetz besorgt, zu gründen, | ||||||
| 12 | gleichwohl aber diese letztere, nämlich die bloße Liebe zum Gesetze, | ||||||
| 13 | (da es alsdann aufhören würde Gebot zu sein, und Moralität, die nun | ||||||
| 14 | subjectiv in Heiligkeit überginge, aufhören würde Tugend zu sein) sich | ||||||
| 15 | zum beständigen, obgleich unerreichbaren Ziele seiner Bestrebung zu | ||||||
| 16 | machen. Denn an dem, was wir hochschätzen, aber doch (wegen des Bewußtseins | ||||||
| 17 | unserer Schwächen) scheuen, verwandelt sich durch die mehrere | ||||||
| 18 | Leichtigkeit ihm Gnüge zu thun die ehrfurchtsvolle Scheu in Zuneigung | ||||||
| 19 | und Achtung in Liebe; wenigstens würde es die Vollendung einer dem | ||||||
| 20 | Gesetze gewidmeten Gesinnung sein, wenn es jemals einem Geschöpfe möglich | ||||||
| 21 | wäre sie zu erreichen. | ||||||
| 22 | Diese Betrachtung ist hier nicht sowohl dahin abgezweckt, das angeführte | ||||||
| 23 | evangelische Gebot auf deutliche Begriffe zu bringen, um der Religionsschwärmerei | ||||||
| 24 | in Ansehung der Liebe Gottes, sondern die sittliche | ||||||
| 25 | Gesinnung auch unmittelbar in Ansehung der Pflichten gegen Menschen | ||||||
| 26 | genau zu bestimmen und einer blos moralischen Schwärmerei, | ||||||
| 27 | welche viel Köpfe ansteckt, zu steuren, oder wo möglich vorzubeugen. Die | ||||||
| 28 | sittliche Stufe, worauf der Mensch (aller unserer Einsicht nach auch jedes | ||||||
| 29 | vernünftige Geschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz. Die Gesinnung, | ||||||
| 30 | die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus | ||||||
| 31 | freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern | ||||||
| 32 | unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, | ||||||
| 33 | darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im | ||||||
| 34 | Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeintlichem Besitze einer völligen | ||||||
| 35 | Reinigkeit der Gesinnungen des Willens. Es ist lauter moralische | ||||||
| 36 | Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüther | ||||||
| 37 | durch Aufmunterung zu Handlungen als edler, erhabener und großmüthiger | ||||||
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