Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 074

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wir haben im vorigen Hauptstücke gesehen: daß alles, was sich als      
  02 Object des Willens vor dem moralischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgründen      
  03 des Willens unter dem Namen des unbedingt Guten      
  04 durch dieses Gesetz selbst, als die oberste Bedingung der praktischen Vernunft,      
  05 ausgeschlossen werde, und daß die bloße praktische Form, die in der      
  06 Tauglichkeit der Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung besteht, zuerst      
  07 das, was an sich und schlechterdings gut ist, bestimme und die Maxime      
  08 eines reinen Willens gründe, der allein in aller Absicht gut ist. Nun finden      
  09 wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie      
  10 des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung      
  11 oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares      
  12 Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung      
  13 ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte,      
  14 seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen      
  15 geltend zu machen bestrebt sei. Man kann diesen Hang, sich selbst nach      
  16 den subjectiven Bestimmungsgründen seiner Willkür zum objectiven Bestimmungsgrunde      
  17 des Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe      
  18 nennen, welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbedingten praktischen      
  19 Princip macht, Eigendünkel heißen kann. Nun schließt das moralische      
  20 Gesetz, welches allein wahrhaftig (nämlich in aller Absicht) objectiv ist,      
  21 den Einfluß der Selbstliebe auf das oberste praktische Princip gänzlich      
  22 aus und thut dem Eigendünkel, der die subjectiven Bedingungen der ersteren      
  23 als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch. Was nun unserem Eigendünkel      
  24 in unserem eigenen Urtheil Abbruch thut, das demüthigt. Also demüthigt      
  25 das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser      
  26 mit demselben den sinnlichen Hang seiner Natur vergleicht. Dasjenige,      
  27 dessen Vorstellung als Bestimmungsgrund unseres Willens uns      
  28 in unserem Selbstbewußtsein demüthigt, erweckt, so fern als es positiv und      
  29 Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung. Also ist das moralische Gesetz      
  30 auch subjectiv ein Grund der Achtung. Da nun alles, was in der Selbstliebe      
  31 angetroffen wird, zur Neigung gehört, alle Neigung aber auf Gefühlen      
  32 beruht, mithin, was allen Neigungen insgesammt in der Selbstliebe      
  33 Abbruch thut, eben dadurch nothwendig auf das Gefühl Einfluß hat, so      
  34 begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzusehen, daß das moralische      
  35 Gesetz, indem es die Neigungen und den Hang, sie zur obersten praktischen      
  36 Bedingung zu machen, d. i. die Selbstliebe, von allem Beitritte zur obersten      
  37 Gesetzgebung ausschließt, eine Wirkung aufs Gefühl ausüben könne,      
           
     

[ Seite 073 ] [ Seite 075 ] [ Inhaltsverzeichnis ]