Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 032

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Anmerkung.
     
           
  02 Das vorher genannte Factum ist unleugbar. Man darf nur das Urtheil zergliedern,      
  03 welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen:      
  04 so wird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigung dazwischen sprechen mag,      
  05 ihre Vernunft dennoch, unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime      
  06 des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich      
  07 selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet. Dieses Princip der Sittlichkeit      
  08 nun, eben um der Allgemeinheit der Gesetzgebung willen, die es zum formalen obersten      
  09 Bestimmungsgrunde des Willens unangesehen aller subjectiven Verschiedenheiten      
  10 desselben macht, erklärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für alle vernünftige      
  11 Wesen, so fern sie überhaupt einen Willen, d. i. ein Vermögen haben, ihre      
  12 Causalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie der      
  13 Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Principien a priori      
  14 (denn diese haben allein diejenige Nothwendigkeit, welche die Vernunft zum Grundsatze      
  15 fordert) fähig sind. Es schränkt sich also nicht blos auf Menschen ein, sondern      
  16 geht auf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das      
  17 unendliche Wesen als oberste Intelligenz mit ein. Im ersteren Falle aber hat das      
  18 Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar als vernünftigem      
  19 Wesen einen reinen, aber als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursachen      
  20 afficirtem Wesen keinen heiligen Willen, d. i. einen solchen, der keiner dem moralischen      
  21 Gesetze widerstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzen kann. Das      
  22 moralische Gesetz ist daher bei jenen ein Imperativ, der kategorisch gebietet, weil      
  23 das Gesetz unbedingt ist; das Verhältniß eines solchen Willens zu /: diesem Gesetze ist      
  24 Abhängigkeit, unter dem Namen der Verbindlichkeit, welche eine Nöthigung,      
  25 obzwar durch bloße Vernunft und deren objectives Gesetz, zu einer Handlung bedeutet,      
  26 die darum Pflicht heißt, weil eine pathologisch afficirte (obgleich dadurch      
  27 nicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willkür einen Wunsch bei sich führt, der      
  28 aus subjectiven Ursachen entspringt, daher auch dem reinen objectiven Bestimmungsgrunde      
  29 oft entgegen sein kann und also eines Widerstandes der praktischen      
  30 Vernunft, der ein innerer, aber intellectueller Zwang genannt werden kann, als      
  31 moralischer Nöthigung bedarf. In der allergnugsamsten Intelligenz wird die Willkür      
  32 als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objectiv Gesetz sein könnte, mit Recht      
  33 vorgestellt, und der Begriff der Heiligkeit, der ihr um deswillen zukommt, setzt sie      
  34 zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch=einschränkende gesetze,      
  35 mithin Verbindlichkeit und Pflicht weg. Diese Heiligkeit des Willens ist gleichwohl      
  36 eine praktische Idee, welche nothwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins      
  37 Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht,      
  38 und welche das reine Sittengesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständig      
  39 und richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendliche gehenden Progressus      
           
     

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