Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 031 |
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01 | Anmerkung. |
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02 | Die reine Geometrie hat Postulate als praktische Sätze, die aber nichts weiter | ||||||
03 | enthalten als die Voraussetzung, daß man etwas thun könne, wenn etwa gefordert | ||||||
04 | würde, man solle es thun und diese sind die einzigen Sätze derselben, die ein Dasein | ||||||
05 | betreffen. Es sind also praktische Regeln unter einer problematischen Bedingung | ||||||
06 | des Willens. Hier aber sagt die Regel: man solle schlechthin auf gewisse Weise verfahren. | ||||||
07 | Die praktische Regel ist also unbedingt, mithin als kategorisch praktischer | ||||||
08 | Satz a priori vorgestellt, wodurch der Wille schlechterdings und unmittelbar (durch | ||||||
09 | die praktische Regel selbst, die also hier Gesetz ist) objectiv bestimmt /: wird. Denn | ||||||
10 | reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille | ||||||
11 | wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, | ||||||
12 | durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht und dieser Bestimmungsgrund | ||||||
13 | als die oberste Bedingung aller Maximen angesehen. Die Sache | ||||||
14 | ist befremdlich genug und hat ihres gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntniß | ||||||
15 | nicht. Denn der Gedanke a priori von einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, | ||||||
16 | der also blos problematisch ist, wird, ohne von der Erfahrung oder irgend | ||||||
17 | einem äußeren Willen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt geboten. Es ist | ||||||
18 | aber auch nicht eine Vorschrift, nach welcher eine Handlung geschehen soll, dadurch | ||||||
19 | eine begehrte Wirkung möglich ist (denn da wäre die Regel immer physisch | ||||||
20 | bedingt), sondern eine Regel, die blos den Willen in Ansehung der Form seiner | ||||||
21 | Maximen a priori bestimmt, und da ist ein Gesetz, welches blos zum Behuf der | ||||||
22 | subjectiven Form der Grundsätze dient, als Bestimmungsgrund durch die objective | ||||||
23 | Form eines Gesetzes überhaupt, wenigstens zu denken nicht unmöglich. | ||||||
24 | Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Factum der Vernunft nennen, | ||||||
25 | weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein | ||||||
26 | der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünfteln kann, | ||||||
27 | sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori, der | ||||||
28 | auf keiner, weder reinen noch empirischen, Anschauung gegründet ist, ob er gleich | ||||||
29 | analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, | ||||||
30 | als positivem Begriffe, eine intellectuelle Anschauung erfordert werden würde, die | ||||||
31 | man hier gar nicht annehmen darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung | ||||||
32 | als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern | ||||||
33 | das einzige Factum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend | ||||||
34 | ( sic volo, sic jubeo ) ankündigt. | ||||||
35 | Folgerung. |
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36 | Reine Vernunft ist für sich allein praktisch und giebt (dem Menschen) | ||||||
37 | ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen. | ||||||
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