Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 027 |
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01 | § 4. |
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02 | Lehrsatz III |
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03 | Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximen als praktische allgemeine | ||||||
04 | Gesetze denken soll, so kann es sich dieselbe nur als solche Principien | ||||||
05 | denken, die nicht der Materie, sondern blos der Form nach den | ||||||
06 | Bestimmungsgrund des Willens enthalten. | ||||||
07 | Die Materie eines praktischen Princips ist der Gegenstand des Willens. | ||||||
08 | Dieser ist entweder der Bestimmungsgrund des letzteren oder nicht. | ||||||
09 | Ist er der Bestimmungsgrund desselben, so würde die Regel des Willens | ||||||
10 | einer empirischen Bedingung (dem Verhältnisse der bestimmenden Vorstellung | ||||||
11 | zum Gefühle der Lust und Unlust) unterworfen, folglich kein praktisches | ||||||
12 | Gesetz sein. Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, | ||||||
13 | d. i. jeden Gegenstand des Willens, (als Bestimmungsgrund) davon absondert, | ||||||
14 | nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. | ||||||
15 | Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjectiv=praktische Principien, | ||||||
16 | d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Gesetze | ||||||
17 | denken, oder es muß annehmen, daß die bloße Form derselben, nach der | ||||||
18 | jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein | ||||||
19 | zum praktischen Gesetze mache. | ||||||
20 | Anmerkung. |
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21 | Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche | ||||||
22 | nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden. Ich habe | ||||||
23 | z. B. es mir zur Maxime gemacht, mein Vermögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern. | ||||||
24 | Jetzt ist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigenthümer verstorben | ||||||
25 | ist und keine Handschrift darüber zurückgelassen hat. Natürlicherweise ist | ||||||
26 | dies der Fall meiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jene Maxime auch als | ||||||
27 | allgemeines praktisches Gesetz gelten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen | ||||||
28 | Fall an und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzes annehmen, mithin ich wohl | ||||||
29 | durch meine Maxime zugleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jedermann ein | ||||||
30 | Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann. Ich | ||||||
31 | werde sofort gewahr, daß ein solches Princip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, | ||||||
32 | weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe. Ein praktisches Gesetz, | ||||||
33 | was ich dafür erkenne, muß sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualificiren; dies ist | ||||||
34 | ein identischer Satz und also für sich klar. Sage ich nun: mein Wille steht unter | ||||||
35 | einem praktischen Gesetze, so kann ich nicht meine Neigung (z. B. im gegenwärtigen | ||||||
36 | Falle meine Habsucht) als den zu einem allgemeinen praktischen Gesetze schicklichen | ||||||
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