Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 024 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | möchten, können sich so weit von ihrer eigenen Erklärung verirren, das, was sie selbst | ||||||
02 | vorher auf ein und eben dasselbe Princip gebracht haben, dennoch hernach für ganz | ||||||
03 | ungleichartig zu erklären. So findet sich z. B. , daß man auch an bloßer Kraftanwendung, | ||||||
04 | an dem Bewußtsein seiner Seelenstärke in Überwindung der Hindernisse, | ||||||
05 | die sich unserem Vorsatze entgegensetzen, an der Cultur der Geistestalente u. s. w. | ||||||
06 | Vergnügen finden könne, und wir nennen das mit Recht feinere Freuden und Ergötzungen , | ||||||
07 | weil sie mehr wie andere in unserer Gewalt sind, sich nicht abnutzen, das | ||||||
08 | Gefühl zu noch mehrerem Genuß derselben vielmehr stärken und, indem sie ergötzen, | ||||||
09 | zugleich cultiviren. Allein sie darum für eine andere Art, den Willen zu bestimmen, | ||||||
10 | als blos durch den Sinn, auszugeben, da sie doch einmal zur Möglichkeit jener Vergnügen | ||||||
11 | ein darauf in uns angelegtes Gefühl als erste Bedingung dieses Wohlgefallens | ||||||
12 | voraussetzen, ist gerade so, als wenn Unwissende, die gerne in der Metaphysik | ||||||
13 | pfuschern möchten, sich die Materie so fein, so überfein, daß sie selbst darüber | ||||||
14 | schwindlig werden möchten, denken und dann glauben, auf diese Art sich ein geistiges | ||||||
15 | und doch ausgedehntes Wesen erdacht zu haben. Wenn wir es mit dem Epikur | ||||||
16 | bei der Tugend aufs bloße Vergnügen aussetzen, das sie verspricht, um den | ||||||
17 | Willen zu bestimmen: so können wir ihn hernach nicht tadeln, daß er dieses mit | ||||||
18 | denen der gröbsten Sinne für ganz gleichartig hält; denn man hat gar nicht Grund | ||||||
19 | ihm aufzubürden, daß er die Vorstellungen, wodurch dieses Gefühl in uns erregt | ||||||
20 | würde, blos den körperlichen Sinnen beigemessen hätte. Er hat von vielen derselben | ||||||
21 | den Quell, so viel man errathen kann, eben sowohl in dem Gebrauch des höheren | ||||||
22 | Erkenntnißvermögens gesucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht | ||||||
23 | hindern, nach genanntem Princip das Vergnügen selbst, das uns jene allenfalls intellectuelle | ||||||
24 | Vorstellungen gewähren, und wodurch sie allein Bestimmungsgründe | ||||||
25 | des Willens sein können, gänzlich für gleichartig zu halten. Consequent zu sein, | ||||||
26 | ist die größte Obliegenheit eines Philosophen und wird doch am seltensten angetroffen. | ||||||
27 | Die alten griechischen Schulen geben uns davon mehr Beispiele, als wir | ||||||
28 | in unserem synkretistischen Zeitalter antreffen, wo ein gewisses Coalitionssystem | ||||||
29 | widersprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünstelt | ||||||
30 | wird, weil es sich einem Publicum besser empfiehlt, das zufrieden ist, von allem | ||||||
31 | etwas und im ganzen nichts zu wissen und dabei in allen Sätteln gerecht zu sein. | ||||||
32 | Das Princip der eigenen Glückseligkeit, so viel Verstand und Vernunft bei ihm auch | ||||||
33 | gebraucht werden mag, würde doch für den Willen keine andere Bestimmungsgründe, | ||||||
34 | als die dem unteren Begehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen, | ||||||
35 | und es giebt also entweder gar kein oberes Begehrungsvermögen, oder reine | ||||||
36 | Vernunft muß für sich allein praktisch sein, d. i. ohne Voraussetzung irgend eines | ||||||
37 | Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als | ||||||
38 | der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung | ||||||
39 | der Principien ist, durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen | ||||||
40 | können. Alsdann allein ist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willen | ||||||
[ Seite 023 ] [ Seite 025 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |