| Kant: Briefwechsel, Brief 80, Von C. F. R. | |||||||
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| Von C. F. R. | |||||||
| Tübingen d. 1. Febr. 1774. | |||||||
| Wohlgebohrner, Hochgelehrter, | |||||||
| Hochzuverehrender Herr Professor. | |||||||
| Erlauben Sie mir daß ich Ihnen vor das große Vergnügen | |||||||
| danke, das ich vornemlich aus Ihren Beobachtungen des Schönen und | |||||||
| Erhabenen geschöpft habe. Ich machte die Aesthetik schon lange Zeit | |||||||
| zu meiner Hauptbeschäftigung, und laß in dieser Absicht nicht nur | |||||||
| den Longin, sondern besonders auch die vortreflichen Aufsäze eines | |||||||
| Mendelsons, Home's, Meiners und anderer: aber keiner befriedigte | |||||||
| mich sosehr als Sie. So oft ich diese oder andere Aesthetiker miteinander | |||||||
| vergleiche, so oft finde ich, daß ihre Meynungen vorzüglich | |||||||
| darinn voneinander unterschieden sind, wie die Hauptquelle unsrer | |||||||
| Kenntnisse in der Aesthetik, oder überhaupt die Entstehungsart ästhetischer | |||||||
| Begriffe zu erforschen sey: ob die Ideen=Arten, welche diese | |||||||
| Wissenschaft in sich faßt zu denjenigen bestimmten Kräften, die bißher | |||||||
| in der Seele entdekt worden od. zu andern von den alten Philosophen | |||||||
| nicht wahrgenommenen Fähigkeiten gehöre: ob der richtige Geschmack | |||||||
| des Schönen und Guten angeboren, od. ob die Empfindung des | |||||||
| Schönen von der Organisation eines Menschen, od. von s. Erziehung, | |||||||
| od. von s. Klima, od. von s. Alter abhange, kurz ob alles Schöne | |||||||
| relativisch seye: und endlich, wann es verschiedene Arten des Schönen | |||||||
| gibt, welche von diesen man für die allgemeinschönste halten soll? | |||||||
| Hievon glaube ich bißher soviel Meynungen gehört und gelesen zu | |||||||
| haben, daß es mir schwer zu seyn scheint, zu bestimmen, welche von | |||||||
| allen diesen die gröste Wahrscheinlichkeit vor sich habe. Und doch | |||||||
| hängt soviel von einer richtigen Entscheidung dieser Fragen ab, da | |||||||
| meines Erachtens ohne diese die Aesthetik niemalen als eine aus | |||||||
| sichern Gründen hergeleitete Wissenschaft angesehen werden kann. Was | |||||||
| die Frage betrift, ob alles Schöne absolut od. relativisch schön seye, | |||||||
| so glaube ich immer, man müße hier eben sowohl zwischen dem sinnlich | |||||||
| Schönen und dem verständlich Schönen einen Unterschied machen. | |||||||
| Bey dem sinnlich Schönen mögen verschiedene Meynungen statt haben; | |||||||
| man mag vorgeben, es halten viele oft andere Dinge od. wohl gar | |||||||
| das Gegentheil für schön: es könne ein mancher gewiße schöne Eigenschaften | |||||||
| nicht bemerken, weil er sich noch nicht zu derjenigen Aufklärung | |||||||
| und Bildung des Verstandes emporgeschwungen, welche dazu | |||||||
| erfordert werde: es fehlen öfters entweder die angenehmen Ideen | |||||||
| selber, od. doch wenigstens eine starke Association derselben; es seye | |||||||
| daher alles nur relativisch schön. Allein über das verständlich=schöne, | |||||||
| glaube ich, kann das Urtheil solcher Menschen wenigstens, die keine | |||||||
| irrige Begriffe haben, nicht verschieden seyn. Dann wann es gewiß | |||||||
| ist, daß alles verständliche an und vor sich etwas absolutes und nothwendiges | |||||||
| ist, - und wer sollte dieses leugnen? - so glaube ich | |||||||
| meinen Satz daraus richtig folgern zu können. Eben dasselbe Object | |||||||
| kann von mir nicht anderst verstanden werden als von einem andern, | |||||||
| vorausgesetzt daß keiner von beeden irre. Hingegen beim sinnlich | |||||||
| schönen verhält sich die Sache ganz anderst. Mit diesem beschäftigen | |||||||
| sich allein die Sinnen, und die Sinnen hangen von dem unterschiedlichen | |||||||
| Gewebe der Fibern und andern dergl. Umständen ab. Ich will | |||||||
| zugeben, daß z. B. der schöne Fuß der mediceischen Venus anderst | |||||||
| von dem Chineser, anderst von dem Hottentotten, anderst von einem | |||||||
| Neger, wiederum anderst von einem Grönländer beurtheilt werde. | |||||||
| Allein das verständlich schöne muß allen möglichen Nationen gleich | |||||||
| schön seyn, und wann dieses nicht ist, so irren sie. Das Object, | |||||||
| welches verständlich schön ist, kann unmögl. wann es richtig beurtheilt | |||||||
| wird, anderst beurtheilt werden. Hier können sich nur Irrthümer, aber | |||||||
| nimmermehr verschiedene in der Sache selbst gegründete Meynungen | |||||||
| einmischen. Doch ich werde Ihnen villeicht beschwerlich. Wie sehr | |||||||
| wünschte ich, in dieser intereßanten Materie, die zwar schon öfters | |||||||
| von den scharfsinnigsten Philosophen, abgehandelt, aber noch nie völlig | |||||||
| erschöpft worden, näher von Ihnen unterrichtet zu werden, und wie | |||||||
| glückl. würde ich mich nicht schäzen, wann Sie mich da, wo ich geirrt | |||||||
| habe, eines bessern belehrten! | |||||||
| Ich bin | |||||||
| Dero | |||||||
| gehorsamster | |||||||
| C. F. R. | |||||||
| Sollte ich das Glück haben, von Ihnen mit einer Antwort beehrt | |||||||
| zu werden so bitte ich nur Ihren Brieff unter dieser Adresse | |||||||
| hieher zu senden: ich werde ihn alsdann richtig bekommen, und mich | |||||||
| Ihnen, wann ich Ihre gütige Erlaubniß erhalten hab, entdeken. | |||||||
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