| Kant: Briefwechsel, Brief 79, An Marcus Herz. | |||||||
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| An Marcus Herz. | |||||||
| (gegen Ende 1773.) | |||||||
| Hochedler Herr | |||||||
| Werthester Freund | |||||||
| Es erfreuet mich von dem guten Fortgange ihrer Bemühungen | |||||||
| Nachricht zu erhalten noch mehr aber die Merkmale des guten Andenkens | |||||||
| und der Freundschaft in dero mir mitgetheilten Schreiben zu | |||||||
| erblicken. Die Übung im Praktischen der Arzneykunst unter der Anführung | |||||||
| eines geschikten Lehrers ist recht nach meinem Wunsche. Der | |||||||
| Kirchhof darf künftig nicht vorher gefüllet werden ehe der junge Doktor | |||||||
| die Methode lernt wie er es recht hätte angreifen sollen. Machen | |||||||
| sie ja fein viele Beobachtungen. Die Theorien sind so hier wie | |||||||
| anderwerts ofters mehr zu Erleichterung des Begrifs als zum Aufschluße | |||||||
| der Naturerscheinungen angelegt. Macbridens systematische | |||||||
| Arzneywissenschaft (ich glaube sie wird Ihnen schon bekannt seyn) hat | |||||||
| mir in dieser Art sehr wohl gefallen. Ich befinde mich itzo im Durchschnitt | |||||||
| genommen viel besser als ehedem. Davon ist die Ursache da | |||||||
| ich ietzt das was mir übel bekommt besser kenne. Medicin ist wegen | |||||||
| meiner empfindlichen Nerven ohne Unterschied ein Gift vor mich. | |||||||
| Das einzige was ich aber nur selten brauche ist ein halber Theelöffel | |||||||
| Fieberrinde mit Wasser wenn mich die Säure Vormittags plagt | |||||||
| welches ich viel besser befinde als alle absorbentia. Sonst habe ich | |||||||
| den täglichen Gebrauch dieses Mittels in der Absicht mich zu roboriren | |||||||
| abgeschaft. Es machte mir dasselbe einen intermittirenden Puls vornemlich | |||||||
| gegen Abend wobey mir ziemlich bange ward bis ich die Ursache | |||||||
| vermuthete und nach Einstellung derselben das Übel sogleich hob. | |||||||
| Studiren Sie doch ja die große Mannigfaltigkeit der Naturen. Die | |||||||
| meinige würde von jedem Arzt der kein Philosoph ist über den Haufen | |||||||
| geworfen werden. | |||||||
| Sie suchen im Meßcatalog fleißig aber vergeblich nach einem | |||||||
| gewissen Nahmen unter dem Buchstaben K. Es würde mir nach der | |||||||
| vielen Bemühung die ich mir gegeben habe nichts leichter gewesen | |||||||
| seyn als ihn darinn mit nicht unbeträchtlichen Arbeiten die ich beynahe | |||||||
| fertig liegen habe paradiren zu lassen. Allein da ich einmal | |||||||
| in meiner Absicht eine so lange von der Hälfte der philosophischen | |||||||
| Welt umsonst bearbeitete Wissenschaft umzuschaffen so weit gekommen | |||||||
| bin daß ich mich in dem Besitz eines Lehrbegrifs sehe der das bisherige | |||||||
| Rätzel völlig aufschließt und das Verfahren der sich selbst isolirenden | |||||||
| Vernunft unter sichere und in der Anwendung leichte Regeln | |||||||
| bringt so bleibe ich nunmehro halsstarrig bey meinem Vorsatz mich | |||||||
| [durch] keinen Autorkützel verleiten zu lassen in einem leichteren und | |||||||
| beliebteren Felde Ruhm zu suchen ehe ich meinen dornigten und | |||||||
| harten Boden eben und zur Allgemeinen Bearbeitung frey gemacht | |||||||
| habe. | |||||||
| Ich glaube nicht daß es viele versucht haben eine gantz neue | |||||||
| Wissenschaft der Idee nach zu entwerfen uud sie zugleich völlig auszuführen. | |||||||
| Was aber das in Ansehung der Methode der Eintheilungen | |||||||
| der genau angemessenen Benennungen vor Mühe macht und | |||||||
| wie viel Zeit darauf verwendet werden muß werden Sie sich kaum | |||||||
| einbilden können. Es leuchtet mir aber davor eine Hofnung entgegen | |||||||
| die ich niemand ausser Ihnen ohne Besörgnis der größesten Eitelkeit | |||||||
| verdächtig zu werden eröfne nemlich der Philosophie dadurch auf eine | |||||||
| dauerhafte Art eine andere und vor Religion und Sitten weit vortheilhaftere | |||||||
| Wendung zu geben zugleich aber auch ihr dadurch die | |||||||
| Gestalt zu geben die den spröden Mathematiker anloken kan sie seiner | |||||||
| Bearbeitung fähig und würdig zu halten. Ich habe noch bisweilen | |||||||
| die Hofnung auf Ostern das Werk fertig zu liefern. Allein wenn ich | |||||||
| auch auf die häufige indispositionen rechne welche immer Unterbrechungen | |||||||
| verursachen so kan ich doch beynahe mit Gewisheit eine | |||||||
| kurze Zeit nach Ostern dasselbe versprechen. | |||||||
| Ihren Versuch in der Moralphilosophie bin ich begierig erscheinen | |||||||
| zu sehen. Ich wünschte aber doch daß Sie den in der höchsten abstraction | |||||||
| der speculativen Vernunft so wichtigen und in der Anwendung | |||||||
| auf das practische so leeren Begrif der realitaet darin nicht | |||||||
| geltend machen möchten. Denn der Begrif ist transscendental die | |||||||
| oberste praktische Elemente aber sind Lust und Unlust welche empirisch | |||||||
| sind ihr Gegenstand mag nun erkannt werden woher er wolle. Es | |||||||
| kan aber ein bloßer reiner Verstandesbegrif die Gesetze oder Vorschriften | |||||||
| desjenigen was lediglich sinnlich ist nicht angeben weil er in | |||||||
| Ansehung dieses vollig unbestimmt ist. Der oberste Grund der | |||||||
| Moralität muß nicht blos auf das Wohlgefallen schließen lassen er muß | |||||||
| selbst im höchsten Grade wohlgefallen den er ist keine blos spekulative | |||||||
| Vorstellung sondern muß Bewegkraft haben und daher ob er zwar | |||||||
| intellectual ist so muß er doch eine gerade Beziehung auf die erste | |||||||
| Triebfedern des Willens haben. Ich werde froh seyn wenn ich meine | |||||||
| Transscendentalphilosophie werde zu Ende gebracht haben welche eigentlich | |||||||
| eine Critik der reinen Vernunft ist alsdenn gehe ich zur Metaphysik | |||||||
| die nur zwey Theile hat: die Methaphysik der Natur und die Metaph: | |||||||
| der Sitten wovon ich die letztere zuerst herausgeben werde und mich | |||||||
| darauf zum voraus freue. | |||||||
| Ich habe die recension der platnerschen anthropologie gelesen. | |||||||
| Ich hätte zwar nicht von selbst auf den recensenten gerathen ietzt | |||||||
| aber vergnügt mich der darinn hervorblickende Fortgang seiner Geschicklichkeit. | |||||||
| Ich lese in diesem Winter zum zweyten mal ein collegium | |||||||
| privatum der Anthropologie welches ich ietzt zu einer ordentlichen | |||||||
| academischen disciplin zu machen gedenke. Allein mein Plan ist gantz | |||||||
| anders. Die Absicht die ich habe ist durch dieselbe die Qvellen aller | |||||||
| Wissenschaften die der Sitten der Geschiklichkeit des Umganges der | |||||||
| Methode Menschen zu bilden u. zu regiren mithin alles Praktischen zu | |||||||
| eröfnen. Da suche ich alsdenn mehr Phänomena u. ihre Gesetze als | |||||||
| die erste Gründe der Möglichkeit der modification der menschlichen | |||||||
| Natur überhaupt. Daher die subtile u. in meinen Augen auf ewig | |||||||
| vergebliche Untersuchung über die Art wie die organe des Korper | |||||||
| mit den Gedanken in Verbindung stehen ganz wegfällt. Ich bin unabläßig | |||||||
| so bey der Beobachtung selbst im gemeinen Leben daß meine | |||||||
| Zuhörer vom ersten Anfange bis zu Ende niemals eine trokene sondern | |||||||
| durch den Anlaß den sie haben unaufhörlich ihre gewöhnliche Erfahrung | |||||||
| mit meinen Bemerkungen zu vergleichen iederzeit eine unterhaltende | |||||||
| Beschäftigung habe. Ich arbeite in Zwischenzeiten daran, | |||||||
| aus dieser in meinen Augen sehr angenehmen Beobachtungslehre eine | |||||||
| Vorübung der Geschiklichkeit der Klugheit und selbst der Weisheit vor | |||||||
| die academische Iugend zu machen welche nebst der physischen geographie | |||||||
| von aller andern Unterweisung unterschieden ist und die Kentnis | |||||||
| der Welt heissen kan. | |||||||
| Mein Bildnis habe vor der Bibliothek gesehen. Eine Ehre die | |||||||
| mich ein wenig beunruhigt weil ich wie Sie wissen allen Schein erschlichener | |||||||
| Lobsprüche und Zudringlichkeit um Aufsehen zu machen sehr | |||||||
| meide. Es ist wohl gestochen obzwar nicht wohl getroffen. Indessen | |||||||
| erfahre ich mit Vergnügen daß solches die Veranstaltung der liebenswürdigen | |||||||
| Partheylichkeit meines ehemaligen Zuhörers ist. Die in | |||||||
| demselben Stücke vorkommende recension Ihrer Schrift beweiset doch | |||||||
| was ich besorgete: daß um neue Gedanken in ein solches Licht zu | |||||||
| stellen daß der Leser den eigenthümlichen Sinn des Verfassers und das | |||||||
| Gewicht der Gründe warnähme eine etwas längere Zeit nöthig ist um | |||||||
| sich in solche Materien bis zu einer völligen und leichten Bekantschaft | |||||||
| hineinzudenken. Ich bin mit aufrichtigster Zuneigung u. Achtung | |||||||
| Ihr | |||||||
| ergebenster Diener u. Freund | |||||||
| I. Kant | |||||||
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