Kant: Briefwechsel, Brief 764, Von Christian Weiß. |
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| Von Christian Weiß. | |||||||
| Leipzig, am 25. Iulius, 1797. | |||||||
| Mein verehrungswürdiger Lehrer! | |||||||
| Sie werden vielleicht nicht selten von Unberufenen mit Briefen | |||||||
| bestürmt, und doch wage ich es ein gleiches zu thun, und rechne auf | |||||||
| Ihre Verzeihung. Es ist wider meine ganze Sinnesart, den Männern | |||||||
| immer fremd zu bleiben, welchen ich soviel, wie Ihnen, durch schriftliche | |||||||
| Belehrungen verdanke, und ich ergreife daher jedesmal die erste, | |||||||
| liebste Gelegenheit mich Ihnen zu nähern. Ich bringe also auch Ihnen | |||||||
| die unbedeutende Gabe dar, welche ich für sechs meiner besten, noch | |||||||
| lebenden, Lehrer vornämlich bestimmte, nicht als ob ich Ihnen damit | |||||||
| etwas Angenehmes gäbe, sondern blos um Ihnen auf eine nicht ganz | |||||||
| aus der Luft gegriffene Art zu sagen, daß ich ewig Ihr Schuldner bin. | |||||||
| Es wäre unbesonnen und strafbar, einem Manne von Ihrem Alter | |||||||
| und Ihren Geschäften seine Zeit noch auf irgend eine Art rauben, oder | |||||||
| ihn sonst mit irgend etwas beschweren zu wollen. Ich trage daher | |||||||
| schon Bedenken, Sie, so gern ich es möchte, um ein schriftliches Urtheil | |||||||
| über das beifolgende Werkchen, welches in Wahrheit ein bloßer Versuch | |||||||
| ist, zu bitten. Wäre es Ihnen indessen möglich, mir meinen | |||||||
| schüchternen Wunsch zu gewähren, so würden Sie meine Dankbarkeit | |||||||
| um vieles erhöhen. | |||||||
| Allein über einen andern Punkt muß ich Sie, mein theuerster | |||||||
| Lehrer, um einige Aufklärung und Zurechtweisung in wenigen Worten | |||||||
| bitten. Es ist, wie Sie sogleich bemerken werden, für mich eine Angelegenheit | |||||||
| des Verstandes und Herzens zugleich. | |||||||
| Ich hielt mich seit einigen Monaten nach langem Nachdenken und | |||||||
| vielen mislungenen Versuchen überzeugt, daß der Prof. Fichte in Iena | |||||||
| den eigentlichen Grund der kritischen Philosophie zuerst systematisch | |||||||
| aufgestellt, dasjenige vollendet habe, was durch Ihre Kritik unvollendet | |||||||
| gelassen werden mußte, und nur in der Darstellungsart seiner Principien | |||||||
| unnöthig dunkel gewesen sey. Iüngst höre ich dagegen von | |||||||
| Ihnen, daß Sie blos den sehr verdienten, und mir ungemein schätzbaren | |||||||
| Herrn Schulz unter denen nennen, welche für Ihre rechten Nachfolger | |||||||
| zu halten seyen. Daneben weiß ich, daß Sie auch des Professor | |||||||
| Reinhold Verdienste, welche er sich durch seine Theorie des Vorstellungsvermögens | |||||||
| gemacht hatte, und welche er doch jetzt selbst für | |||||||
| nichtig (in gewisser Rücksicht) erklärt, anerkannt und gerühmt haben. | |||||||
| Ich werde durch dies alles in meinen Uiberzeugungen irre. | |||||||
| Sie sehen, würdiger Mann, ich frage nicht, um mir das Nachdenken | |||||||
| zu ersparen. Ich habe mit aller Anstrengung geforscht, und | |||||||
| bis jetzt soviel gefunden: | |||||||
| "Sie kamen zu Ihrem Systeme auf anderm Wege, als Fichte | |||||||
| "zu dem seinigen; daher stellten Sie es auch nach einer andern | |||||||
| "(und bessern) Methode dar, als Er. - Der Grund aber von | |||||||
| "Ihrer ganzen Philosophie kann, wenn die Frage ist nach dem | |||||||
| "vollständigen und höchsten Grunde der Einheit, kein anderer | |||||||
| "seyn, als die transscendentale Einheit des menschlichen | |||||||
| "Geistes. Diese ausführlich darzulegen, ist der Zweck der Wissenschaftslehre; | |||||||
| die Kritik der reinen Vernunft konnte, ihrer Natur | |||||||
| "nach, dieselbe nur stillschweigend voraussetzen und auf sie hindeuten. | |||||||
| Aber auf jene Einheit, welche nur durch Abstraction | |||||||
| "(analytisch) gefunden, und nur durch ein inneres, unvertilgbares | |||||||
| Gefühl, welches man reine innere Anschauung nennt, | |||||||
| "(synthetisch) erwiesen werden kann, gründet sich alle Wahrheit. | |||||||
| Iede Uiberzeugung, und namentlich die von dem Daseyn | |||||||
| eines Realen im Raume, erhält den Charakter der Nothwendigkeit | |||||||
| und Unabänderlichkeit allein durch die transscendentale | |||||||
| Uibertragung der absoluten (nicht mehr erweislichen | |||||||
| "oder vermittelten,) Realität des Ich auf alles, was dasselbe | |||||||
| "sich, als vorstellendem Verstande, real entgegensetzen, und worauf | |||||||
| "es wirken soll. Aus jener Einheit, (der absol. Thesis,) und | |||||||
| "der mit ihr nothwendig verbundenen Antithesis und Synthesis, | |||||||
| müssen auch eigentlich die Kategorien mit ihren | |||||||
| "Dichotomien und Trichotomien deducirt werden u.s.w. Kurz, | |||||||
| "wer (als Philosoph) nicht an sich selbst glaubt, nicht vor allem | |||||||
| "innig überzeugt ist von dem Realen in ihm selbst: für den ist | |||||||
| "kein haltbarer Grund des Wissens oder des Glaubens irgendwo | |||||||
| "sonst zu entdecken." | |||||||
| Aber nun bitte ich Sie, sagen Sie mir: Habe ich, wie ich es | |||||||
| glaube, den Geist Ihrer Lehre getroffen? geht die Wahrheit und das | |||||||
| Leben aus den Objecten in uns? oder leiht nicht vielmehr der Geist | |||||||
| den Dingen außer ihm (welche ohne ihn Nichts sind,) daß eine wie | |||||||
| die andre? Ist es nicht wahr, was Reinhold in dem zweiten Bande | |||||||
| seiner vermischten Schriften sagt? - Und ist endlich dasselbe nicht auch | |||||||
| der Sinn des trefflichen Mannes, Friedr. Heinr. Iacobi? - leuchtet | |||||||
| dieser Geist nicht aus seinem Spinoza, seinem David Hume, seinem | |||||||
| Allwill, und aus allen seinen Schriften hervor? dieser hohe, herrliche | |||||||
| Geist, der auch mich jetzt zu segnen und zu erheben anfängt! | |||||||
| Noch einmal, würdiger Greis! verzeihen Sie dem dreiundzwanzigjährigen | |||||||
| Iüngling, daß er dem Drange seines Herzens folgte, und | |||||||
| mit seinen Bedürfnissen sich ungeduldig sogleich zur Quelle selber begab. | |||||||
| Lassen Sie mich nicht vergebens um einige Zeilen zur Antwort | |||||||
| gebeten haben, und erlauben Sie mir, mich mit dem aufrichtigsten Gefühle | |||||||
| der Achtung zu nennen | |||||||
| Ihren | |||||||
| dankbaren Schüler und Verehrer | |||||||
| Christian Weiß. | |||||||
| Ihr Brief findet mich bis zur Michaelismesse gewiß in Leipzig; | |||||||
| ich wohne bei meinem Vater, dem Dr. Weiß, Diakonus an der Nikolaikirche. | |||||||
| [ abgedruckt in : AA XII, Seite 185 ] [ Brief 763 ] [ Brief 765 ] [ Gesamtverzeichnis des Briefwechsels ] |
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