Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 075 |
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| 01 | und sentimentalisirender Moral, in die - gleichsam ätherischen | ||||||
| 02 | Regionen der feinsten Speculation emporzuheben. | ||||||
| 03 | Denn ansehnlich ist die Zahl scharfsinniger Geister, welche, durch | ||||||
| 04 | das tiefere Studium Ihrer Werke belebt und gleichsam angeglüht, sich | ||||||
| 05 | über diesen Geist des Zeitalters hinausschwingen; und, zum Theil, als | ||||||
| 06 | vortrefliche Denker und geschätzte Schriftsteller in Teutschland glänzen. | ||||||
| 07 | Von welcher Achtung ich gegen einige derselben durchdrungen bin, | ||||||
| 08 | das zeigt so manche Stelle dieses Werkes. | ||||||
| 09 | Aber wenn die Gaben des Himmels selbst von Menschen=hand | ||||||
| 10 | so oft und so mannigfaltig gemißbraucht werden: wie konnten die | ||||||
| 11 | Früchte Ihres Geistes diesem allgemeinen Loose der Dinge entgehen? | ||||||
| 12 | Mit Unwillen bemerket der unpartheiische Beobachter der neuesten | ||||||
| 13 | philosophischen Litteratur: daß jener analytische Geist, der, in Ihrer | ||||||
| 14 | Hand, ein Mikroscop ist, vor welchem die Natur jede tiefliegendste, verborgenste | ||||||
| 15 | Feinheit in dem Denk= und Empfindungsgeschäfte unseres | ||||||
| 16 | Geistes zu entschleiern scheint, von so vielen andern Händen nur gebraucht | ||||||
| 17 | wird, um dürre Strohhalme zu zergliedern, und | ||||||
| 18 | Sonnen=stäubchen zu zertheilen. | ||||||
| 19 | Mit Unwillen hört er aus dem Munde der Iugendführer auf | ||||||
| 20 | höhern und niedern Schulen, daß über den, nur für auserlesene und | ||||||
| 21 | mannigfaltig=geübte Denker berechneten Formal=Kenntnissen, gründliches | ||||||
| 22 | Studium reeller Wissenschaften, von den Iünglingen gefährlich | ||||||
| 23 | vernachlässiget, und alte Wahrheit (wenn gleich mit der neuesten | ||||||
| 24 | Ansicht derselben keinesweges im Widerspruch) verschmäht, verhöhnet | ||||||
| 25 | wird. | ||||||
| 26 | Nicht ohne kränkendes Gefühl für den Ruhm teutscher Nation, | ||||||
| 27 | als einer der glücklichsten Selbstdenkerin unter ihren europäischen | ||||||
| 28 | Schwestern, sieht er, durch das tiefsinnigste und jede Schwinge der | ||||||
| 29 | Denkkraft mächtig=anregendste aller philosophischen Systeme, jenen | ||||||
| 30 | niedrigen Geist scholastischer Polemik und sclavischen Nachbetens | ||||||
| 31 | von neuem sein Haupt erheben. | ||||||
| 32 | Mit einer, an Ekel gränzenden, Empfindung sieht er Teutoniens | ||||||
| 33 | schöne Sprache - in Abhandlungen und Werken, die der allgemeinen | ||||||
| 34 | Belehrung und Veredelung gewidmet seyn sollen, verzerrt, entstellt | ||||||
| 35 | durch Transscendentalitäten und Terminologien, deren sich nur der | ||||||
| 36 | große Stifter des kritischen Systems, als unentbehrlicher Werkzeuge | ||||||
| 37 | philosophischer Analyse, zu bedienen berechtiget war; er, der seine Leser, | ||||||
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