Kant: AA XII, Briefwechsel 1796 , Seite 076

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 für den kleineren Verlust der zierlichen Hülle des Ausdrucks, durch den      
  02 Gehalt des in der Hülle verborgnen Saamens so reichlich zu entschädigen      
  03 weiß, eines Saamens, fruchtschwanger von Ideen zu neuen      
  04 Anpflanzungen im Reiche der Wahrheit.      
           
  05 Man glaubt, die Ideen des ersten der Denker erschöpft zu haben,      
  06 wenn man seine Formeln ausspricht; man glaubt, tiefsinnig zu schreiben,      
  07 weil man sich dunkel ausdrückt; man glaubt sich Denker, weil man      
  08 das Gedachte eines Andern classificirt; man glaubt sich Kant, weil      
  09 man Kanti=aner ist.      
           
  10 Und worin liegt es, daß wir bei allen, zum Theil sehr verdienstlichen      
  11 Commentaren über Ihr Lehrgebäude, seit beinahe funfzehn      
  12 Iahren, noch immer gleichsam nur in den Vorhallen verweilen?      
           
  13 Worin ist die Ursache zu suchen, daß eine große Masse wichtiger      
  14 und höchst=fruchtbarer Ideen in den unsterblichen Werken Ihres Geistes      
  15 unbeleuchtet, ungeprüft, und, am allermeisten, ungebraucht und ungenuzt      
  16 daliegt? Die Ursache, daß einiger Ihrer Werke, daß z. B. der      
  17 metaphysischen Anfangsgründe*) der Naturlehre, von den erklärtesten      
  18 Anhängern Ihres Systems kaum erwähnet wird? Die Ursache, da      
  19 man selbst über gewisse Grundbegriffe der kritischen Philosophie, nicht      
  20 bloß unter den Philosophen überhaupt, sondern, wie es scheint, unter      
  21 den Stammhaltern derselben sogar, nicht einig ist? Worin liegt es      
  22 endlich, daß der Verfasser der Vernunftkritik sich noch immer mehr      
  23 über=baut, als auf seinen Fundamenten weiter fort=gebaut sieht?      
  24 Und das leztere war doch, wenn mich nicht alles täuscht, was ich je      
  25 aus Ihrem Munde vernahm, Ihr einziger Wunsch!      
           
  26 Wenn es schwer, wenn es schwerer als bei irgend einem der      
  27 jemaligen philosophischen Systeme, ist, den Tiefsinn Ihrer Untersuchungen      
  28 zu erreichen: diesen Tiefsinn, hinter welchem Aristotelische Analytik,      
  29 Leibnitzischer Feinblick, und Humische Dialektik, unabsehbar weit zurückebleiben;      
  30 so wünschte ich, daß irgend einer der vielen treflichen      
  31 Geister, die Ihren Werken ihren Fleiß und ihre Talente widmen, diejenigen      
  32 Stellen derselben, wo Sie, wie der Dichter in den Momenten      
  33 schwungvoller Begeisterung, gleichsam von dem hellesten Glanz philosophisch=deutlicher      
  34 *) Herr M. Beck, ein eben so gründlicher, und Kenntnißvoller, als bescheidener      
  35 Denker, hat, nur vor einiger Zeit, und nicht ohne Glück, angefangen, dies äußerst      
  36 wichtige Werk zu erläutern.      
           
     

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