| Kant: AA X, Briefwechsel 1774 , Seite 147 | |||||||
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| 01 | vergleiche, so oft finde ich, daß ihre Meynungen vorzüglich | ||||||
| 02 | darinn voneinander unterschieden sind, wie die Hauptquelle unsrer | ||||||
| 03 | Kenntnisse in der Aesthetik, oder überhaupt die Entstehungsart ästhetischer | ||||||
| 04 | Begriffe zu erforschen sey: ob die Ideen=Arten, welche diese | ||||||
| 05 | Wissenschaft in sich faßt zu denjenigen bestimmten Kräften, die bißher | ||||||
| 06 | in der Seele entdekt worden od. zu andern von den alten Philosophen | ||||||
| 07 | nicht wahrgenommenen Fähigkeiten gehöre: ob der richtige Geschmack | ||||||
| 08 | des Schönen und Guten angeboren, od. ob die Empfindung des | ||||||
| 09 | Schönen von der Organisation eines Menschen, od. von s. Erziehung, | ||||||
| 10 | od. von s. Klima, od. von s. Alter abhange, kurz ob alles Schöne | ||||||
| 11 | relativisch seye: und endlich, wann es verschiedene Arten des Schönen | ||||||
| 12 | gibt, welche von diesen man für die allgemeinschönste halten soll? | ||||||
| 13 | Hievon glaube ich bißher soviel Meynungen gehört und gelesen zu | ||||||
| 14 | haben, daß es mir schwer zu seyn scheint, zu bestimmen, welche von | ||||||
| 15 | allen diesen die gröste Wahrscheinlichkeit vor sich habe. Und doch | ||||||
| 16 | hängt soviel von einer richtigen Entscheidung dieser Fragen ab, da | ||||||
| 17 | meines Erachtens ohne diese die Aesthetik niemalen als eine aus | ||||||
| 18 | sichern Gründen hergeleitete Wissenschaft angesehen werden kann. Was | ||||||
| 19 | die Frage betrift, ob alles Schöne absolut od. relativisch schön seye, | ||||||
| 20 | so glaube ich immer, man müße hier eben sowohl zwischen dem sinnlich | ||||||
| 21 | Schönen und dem verständlich Schönen einen Unterschied machen. | ||||||
| 22 | Bey dem sinnlich Schönen mögen verschiedene Meynungen statt haben; | ||||||
| 23 | man mag vorgeben, es halten viele oft andere Dinge od. wohl gar | ||||||
| 24 | das Gegentheil für schön: es könne ein mancher gewiße schöne Eigenschaften | ||||||
| 25 | nicht bemerken, weil er sich noch nicht zu derjenigen Aufklärung | ||||||
| 26 | und Bildung des Verstandes emporgeschwungen, welche dazu | ||||||
| 27 | erfordert werde: es fehlen öfters entweder die angenehmen Ideen | ||||||
| 28 | selber, od. doch wenigstens eine starke Association derselben; es seye | ||||||
| 29 | daher alles nur relativisch schön. Allein über das verständlich=schöne, | ||||||
| 30 | glaube ich, kann das Urtheil solcher Menschen wenigstens, die keine | ||||||
| 31 | irrige Begriffe haben, nicht verschieden seyn. Dann wann es gewiß | ||||||
| 32 | ist, daß alles verständliche an und vor sich etwas absolutes und nothwendiges | ||||||
| 33 | ist, - und wer sollte dieses leugnen? - so glaube ich | ||||||
| 34 | meinen Satz daraus richtig folgern zu können. Eben dasselbe Object | ||||||
| 35 | kann von mir nicht anderst verstanden werden als von einem andern, | ||||||
| 36 | vorausgesetzt daß keiner von beeden irre. Hingegen beim sinnlich | ||||||
| 37 | schönen verhält sich die Sache ganz anderst. Mit diesem beschäftigen | ||||||
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