Kant: AA X, Briefwechsel 1766 , Seite 065 |
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| 01 | Bey dem Überdenken dieser Umstände und Verhältnisse der Form | ||||||
| 02 | und Materie bin ich auf folgende Sätze gefallen, die ich schlechthin | ||||||
| 03 | nur Anführen will. | ||||||
| 04 | 1°. Die Form gibt Principia, die Materie aber Axiomata und | ||||||
| 05 | Postulata . | ||||||
| 06 | 2°. Die Form fordert, daß man bey einfachen Begriffen anfange, | ||||||
| 07 | weil diese für sich und zwar, weil sie einfach sind, keinen | ||||||
| 08 | innern Widerspruch haben können, oder für sich davon frey | ||||||
| 09 | und für sich gedenkbar sind. | ||||||
| 10 | 3°. Axiomata und Postulata kommen eigentlich nur bey einfachen | ||||||
| 11 | Begriffen vor. Denn zusammengesetzte Begriffe sind a priori | ||||||
| 12 | nicht für sich gedenkbar. Die Möglichkeit der Zusammensetzung | ||||||
| 13 | muß erst aus den Grundsätzen und Postulatis folgen. | ||||||
| 14 | 4°. Entweder es ist kein zusammengesetzter Begriff gedenkbar, oder | ||||||
| 15 | die Möglichkeit der Zusammensetzung muß schon in den einfachen | ||||||
| 16 | Begriffen gedenkbar seyn. | ||||||
| 17 | 5°. Die einfachen Begriffe sind individuelle Begriffe. Denn | ||||||
| 18 | Genera und Species enthalten die Fundamenta diuisionum | ||||||
| 19 | et subdiuisionum in sich, und sind eben dadurch desto zusammengesetzter, | ||||||
| 20 | je abstracter und allgemeiner sie sind. Der | ||||||
| 21 | Begriff Ens ist unter allen der Zusammengesetzteste. | ||||||
| 22 | 6°. Nach der Leibnizischen Analyse, die durchs Abstrahiren und | ||||||
| 23 | nach Ähnlichkeiten geht, kömmt man auf desto zusammengesetztere | ||||||
| 24 | Begriffe, je mehr man abstrahirt, und mehrentheils | ||||||
| 25 | auf nominale Verhältnisbegriffe, die mehr die Form als die | ||||||
| 26 | Materie angehen. | ||||||
| 27 | 7°. Hinwiederum da die Form auf lauter Verhältnisbegriffe geht, | ||||||
| 28 | so gibt sie keine andere als einfache Verhältnisbegriffe an. | ||||||
| 29 | 8°. Demnach müssen die eigentlich obiective einfache Begriffe aus | ||||||
| 30 | dem directen Anschauen derselben gefunden werden, das will | ||||||
| 31 | sagen, man muß auf gut anatomische Art, die Begriffe | ||||||
| 32 | sämtlich vornehmen, jeden durch die Musterung gehen lassen, | ||||||
| 33 | um zu sehen, ob sich mit Weglassung aller Verhältnisse in | ||||||
| 34 | dem Begriff selbst mehrere andere finden oder ob er durchaus | ||||||
| 35 | einformig ist. | ||||||
| 36 | 9°. Einfache Begriffe sind von einander, wie Raum und Zeit, | ||||||
| 37 | das will sagen, ganz verschieden, leicht kenntlich, leicht benennbar, | ||||||
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