| Kant: AA X, Briefwechsel 1765 , Seite 052 | |||||||
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| 01 | Metaphysic mehr enthalten muß, als was bißher darinn gewesen. | ||||||
| 02 | Zur Architectonic nehme ich das einfachen und erste jeder Theile der | ||||||
| 03 | menschlichen Erkenntnis, und zwar nicht nur die Principia, welches | ||||||
| 04 | von der Form hergenommene Gründe sind, sondern auch die Axiomata, | ||||||
| 05 | die von der Materie selbst hergenommen werden müßen, und | ||||||
| 06 | eigentlich nur bey den einfachen Begriffen, als die für sich nicht widersprechend | ||||||
| 07 | und für sich gedenkbar sind, vorkommen, und die Postulata, | ||||||
| 08 | welche allgemeine und unbedingte Möglichkeiten der Zusammensetzung | ||||||
| 09 | und Verbindung der einfachen Begriffe angeben. Von der Form allein | ||||||
| 10 | kommt man zu keiner Materie, und man bleibt im idealen, und in bloßen | ||||||
| 11 | Terminologien stecken, wenn man sich nicht um das erste und für sich | ||||||
| 12 | Gedenkbare der Materie oder des obiectiuen Stoffes der Erkenntnis | ||||||
| 13 | umsieht. | ||||||
| 14 | Wenn die Architectonik ein Roman wäre, so glaube ich, sie würde | ||||||
| 15 | bereits viele Verleger gefunden haben, so sehr ist es wahr, daß Buchhändler | ||||||
| 16 | und Leser einander verderben, und vom gründlichen Nachdenken | ||||||
| 17 | abhalten. Hier herum philosophirt man schlechthin nur über die | ||||||
| 18 | sogenannten schönen Wißenschaften. Dichter, Maler und Tonkünstler | ||||||
| 19 | finden die ihren Künsten eigene Wörter zu niedrig und entlehnen | ||||||
| 20 | daher einer die Kunstwörter des andern. Der Dichter spricht von | ||||||
| 21 | nichts als von Colorit, Farbenmischung, Pinselzügen, Stellung, Zeichnung, | ||||||
| 22 | Manier, Anstrich, etc. Der Tonkünstler von Colorit, Ausdruck, | ||||||
| 23 | Einkleidung, feurigen und witzigen Gedanken der Töne, von pedantischen | ||||||
| 24 | Fugen etc. Er hat eben so wie der Maler einen Stylum, | ||||||
| 25 | den er sublim, mittelmäßig, bürgerlich, heroisch, kriechend etc. zu | ||||||
| 26 | machen weiß. In solchen Metaphern, die keiner weder recht versteht, | ||||||
| 27 | noch erklärt, noch das tertium comparationis kennt, besteht nun das | ||||||
| 28 | feine und erhabene dieser Künste und eben dadurch macht man sich | ||||||
| 29 | ein gelehrtes und Sublimes Ansehen daß man sie gebraucht. Da sich | ||||||
| 30 | noch niemand bemüht hat, das was in solchen Ausdrücken gedenkbar | ||||||
| 31 | ist, auszulesen und mit eigenen Namen zu benennen, so kann man | ||||||
| 32 | sie desto dreister gebrauchen. So weit aber wird man die Auslegung | ||||||
| 33 | nicht treiben können, daß man dem Blinden die Farben, dem Tauben | ||||||
| 34 | die Töne begreiflich mache. Indeßen sollte man fast gedenken, da | ||||||
| 35 | es die Absicht bey solchen Metaphern wäre. | ||||||
| 36 | Doch ich komme wieder auf die Architectonik. Ich sehe aus verschiedenen | ||||||
| 37 | Umständen, daß Herr Kanter ein Mann ist, der auch | ||||||
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