Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 227 |
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| 01 | Es giebt aber auch gigantische Gelehrsamkeit, die doch oft cyklopisch | ||||||
| 02 | ist, der nämlich ein Auge fehlt: nämlich das der wahren Philosophie, um | ||||||
| 03 | diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, | ||||||
| 04 | durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen. | ||||||
| 05 | Die bloßen Naturalisten des Kopfs ( çlêves de la nature, Autodidacti ) | ||||||
| 06 | können in manchen Fällen auch für Genies gelten, weil sie, ob | ||||||
| 07 | sie zwar manches, was sie wissen, von anderen hätten lernen können, für | ||||||
| 08 | sich selbst ausgedacht haben und in dem, was an sich keine Sache des | ||||||
| 09 | Genies ist, doch Genies sind: wie es, was mechanische Künste betrifft, in | ||||||
| 10 | der Schweiz manche giebt, welche in diesen Künsten Erfinder sind; aber | ||||||
| 11 | ein früh=kluges Wunderkind ( ingenium praecox ) wie in Lübeck Heinecke, | ||||||
| 12 | oder in Halle Baratier von ephemerischer Existenz sind Abschweifungen | ||||||
| 13 | der Natur von ihrer Regel, Raritäten fürs Naturaliencabinet, und lassen | ||||||
| 14 | ihre überfrühe Zeitigung zwar bewundern, aber oft auch von denen, die | ||||||
| 15 | sie beförderten, im Grund bereuen. | ||||||
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| 16 | Weil am Ende der ganze Gebrauch des Erkenntnißvermögens zu | [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 161)] | |||||
| 17 | seiner eigenen Beförderung selbst im theoretischen Erkenntnisse doch der | ||||||
| 18 | Vernunft bedarf, welche die Regel giebt, nach welcher es allein befördert | ||||||
| 19 | werden kann: so kann man den Anspruch, den die Vernunft an dasselbe | ||||||
| 20 | macht, in die drei Fragen zusammenfassen, welche nach den drei Facultäten | ||||||
| 21 | desselben gestellt sind: | ||||||
| 22 | Was will ich? (frägt der Verstand)*) | ||||||
| 23 | Worauf kommts an? (frägt die Urtheilskraft) | ||||||
| 24 | Was kommt heraus? (frägt die Vernunft.) | ||||||
| 25 | Die Köpfe sind in der Fähigkeit der Beantwortung aller dieser drei | ||||||
| 26 | Fragen sehr verschieden. - Die erste erfordert nur einen klaren Kopf, sich | ||||||
| 27 | selbst zu verstehen; und diese Naturgabe ist bei einiger Cultur ziemlich | ||||||
| 28 | gemein; vornehmlich wenn man darauf aufmerksam macht. - Die zweite | ||||||
| 29 | treffend zu beantworten, ist weit seltener; denn es bieten sich vielerlei Arten | ||||||
| 30 | der Bestimmung des vorliegenden Begriffs und der scheinbaren Auflösung | ||||||
| 31 | der Aufgabe dar: welche ist nun die einzige, die dieser genau angemessen | ||||||
| *) Das Wollen wird hier blos im theoretischen Sinn verstanden: Was will ich als wahr behaupten? | |||||||
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