Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 226 |
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| 01 | geschehen: weshalb man Genie auch das Talent nennen kann, "durch welches | ||||||
| 02 | die Natur der Kunst die Regel giebt." | ||||||
| 03 | § 58. Ob der Welt durch große Genies im Ganzen sonderlich gedient | ||||||
| 04 | sei, weil sie doch oft neue Wege einschlagen und neue Aussichten eröffnen, | ||||||
| 05 | oder ob mechanische Köpfe, wenn sie gleich nicht Epoche machten, mit | ||||||
| 06 | ihrem alltägigen, langsam am Stecken und Stabe der Erfahrung fortschreitenden | ||||||
| 07 | Verstande nicht das Meiste zum Wachsthum der Künste und | ||||||
| 08 | Wissenschaften beigetragen haben (indem sie, wenn gleich keiner von ihnen | ||||||
| 09 | Bewunderung erregte, doch auch keine Unordnung stifteten), mag hier unerörtert | ||||||
| 10 | bleiben. - Aber ein Schlag von ihnen, Geniemänner (besser | ||||||
| 11 | Genieaffen) genannt, hat sich unter jenem Aushängeschilde mit eingedrängt, | ||||||
| 12 | welcher die Sprache außerordentlich von der Natur begünstigter | ||||||
| 13 | Köpfe führt, das mühsame Lernen und Forschen für stümperhaft erklärt | ||||||
| 14 | und den Geist aller Wissenschaft mit dem Griffe gehascht zu haben, ihn | ||||||
| 15 | aber in kleinen Gaben concentrirt und kraftvoll zu reichen vorgiebt. Dieser | ||||||
| 16 | Schlag ist, wie der der Quacksalber und Marktschreier den Fortschritten | ||||||
| 17 | in wissenschaftlicher und sittlicher Bildung sehr nachtheilig, wenn er über | ||||||
| 18 | Religion, Staatsverhältnisse und Moral gleich dem Eingeweihten oder | ||||||
| 19 | Machthaber vom Weisheitssitze herab im entscheidenden Tone abspricht | ||||||
| 20 | und so die Armseligkeit des Geistes zu verdecken weiß. Was ist hiewider | ||||||
| 21 | anders zu thun, als zu lachen und seinen Gang mit Fleiß, Ordnung und | ||||||
| 22 | Klarheit geduldig fortzusetzen, ohne auf jene Gaukler Rücksicht zu nehmen? | ||||||
| 23 | § 59. Das Genie scheint auch nach der Verschiedenheit des Nationalschlages | [ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 178)] | |||||
| 24 | und des Bodens, dem es angeboren ist, verschiedene ursprüngliche | ||||||
| 25 | Keime in sich zu haben und sie verschiedentlich zu entwickeln. Es schlägt | ||||||
| 26 | bei den Deutschen mehr in die Wurzel, bei den Italiänern in die Krone, | ||||||
| 27 | bei den Franzosen in die Blüthe und bei den Engländern in die Frucht. | ||||||
| 28 | Noch ist der allgemeine Kopf (der alle verschiedenartige Wissenschaften | ||||||
| 29 | befaßt) vom Genie als dem erfinderischen unterschieden. Der | ||||||
| 30 | erstere kann es in demjenigen sein, was gelernt werden kann; nämlich der | ||||||
| 31 | die historische Erkenntniß von dem, was in Ansehung aller Wissenschaften | ||||||
| 32 | bisher gethan ist, besitzt (Polyhistor), wie Jul. Cäs. Scaliger. Der | ||||||
| 33 | letztere ist der Mann, nicht sowohl von großem Umfange des Geistes, | ||||||
| 34 | als intensiver Größe desselben, in Allem Epoche zu machen, was er unternimmt | ||||||
| 35 | (wie Newton, Leibniz). Der architektonische, der den Zusammenhang | ||||||
| 36 | aller Wissenschaften, und wie sie einander unterstützen, methodisch | ||||||
| 37 | einsieht, ist ein nur subalternes, aber doch nicht gemeintes Genie. | ||||||
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