Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 129 |
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| 01 | wird, uns zugleich ein großes Mittel entzogen wird, die Richtigkeit | ||||||
| 02 | unserer eigenen Urtheile zu prüfen, und wir dem Irrthum preis gegeben | ||||||
| 03 | werden. Man sage ja nicht, daß wenigstens die Mathematik privilegirt | ||||||
| 04 | sei, aus eigener Machtvollkommenheit abzusprechen; denn wäre nicht die | ||||||
| 05 | wahrgenommene durchgängige Übereinstimmung der Urtheile des Meßkünstlers | ||||||
| 06 | mit dem Urtheile aller Anderen, die sich diesem Fache mit Talent | ||||||
| 07 | und Fleiß widmeten, vorhergegangen, so würde sie selbst der Besorgniß, | ||||||
| 08 | irgendwo in Irrthum zu fallen, nicht entnommen sein. - Giebt es doch | ||||||
| 09 | auch manche Fälle, wo wir sogar dem Urtheil unserer eigenen Sinne allein | ||||||
| 10 | nicht trauen, z. B. ob ein Geklingel blos in unseren Ohren, oder ob es | ||||||
| 11 | das Hören wirklich gezogener Glocken sei, sondern noch andere zu befragen | ||||||
| 12 | nöthig finden, ob es sie nicht auch so dünke. Und ob wir gleich im Philosophiren | ||||||
| 13 | wohl eben nicht, wie die Juristen sich auf Urtheile der Rechtserfahrenen, | ||||||
| 14 | uns auf andrer Urtheile zu Bestätigung unserer eigenen berufen | ||||||
| 15 | dürfen, so würde doch ein jeder Schriftsteller, der keinen Anhang findet, | ||||||
| 16 | mit seiner öffentlich erklärten Meinung, die sonst von Wichtigkeit ist, in | ||||||
| 17 | Verdacht des Irrthums kommen. | ||||||
| 18 | Eben darum ist es ein Wagestück: eine der allgemeinen Meinung, | ||||||
| 19 | selbst der Verständigen, widerstreitende Behauptung ins Publicum zu | ||||||
| 20 | spielen. Dieser Anschein des Egoisms heißt die Paradoxie. Es ist nicht | ||||||
| 21 | eine Kühnheit, etwas auf die Gefahr, daß es unwahr sei, sondern nur daß | ||||||
| 22 | es bei wenigen Eingang finden möchte, zu wagen. - Vorliebe fürs Paradoxe | ||||||
| 23 | ist zwar logischer Eigensinn, nicht Nachahmer von Anderen sein | ||||||
| 24 | zu wollen, sondern als ein seltener Mensch zu erscheinen, statt dessen ein | ||||||
| 25 | solcher oft nur den Seltsamen macht. Weil aber doch ein jeder seinen | ||||||
| 26 | eigenen Sinn haben und behaupten muß ( Si omnes patres sic, at ego | ||||||
| 27 | non sic. Abaelard ): so ist der Vorwurf der Paradoxie, wenn sie nicht | ||||||
| 28 | auf Eitelkeit, sich blos unterscheiden zu wollen, gegründet ist, von keiner | ||||||
| 29 | schlimmen Bedeutung. - Dem Paradoxen ist das Alltägliche entgegengesetzt, | ||||||
| 30 | was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem | ||||||
| 31 | ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; | ||||||
| 32 | statt dessen das Paradoxon das Gemüth zur Aufmerksamkeit und Nachforschung | ||||||
| 33 | erweckt, die oft zu Entdeckungen führt. | ||||||
| 34 | Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem sein eigener Geschmack | ||||||
| 35 | schon gnügt; es mögen nun andere seine Verse, Malereien, Musik u. d. g. | ||||||
| 36 | noch so schlecht finden, tadeln oder gar verlachen. Er beraubt sich selbst | ||||||
| 37 | des Fortschritts zum Besseren, wenn er sich mit seinem Urtheil isolirt, sich | ||||||
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