Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 438 |
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| 01 | dem praktischen Verstande zu, der die Regel giebt; die innere Zurechnung | ||||||
| 02 | aber einer That, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles, ( in | ||||||
| 03 | meritum aut demeritum ) gehört zur Urtheilskraft ( iudicium ), welche | ||||||
| 04 | als das subjective Princip der Zurechnung der Handlung, ob sie als That | ||||||
| 05 | (unter einem Gesetz stehende Handlung) geschehen sei oder nicht, rechtskräftig | ||||||
| 06 | urtheilt; worauf denn der Schluß der Vernunft (die Sentenz), | ||||||
| 07 | d. i. die Verknüpfung der rechtlichen Wirkung mit der Handlung (die Verurtheilung | ||||||
| 08 | oder Lossprechung), folgt: welches alles vor Gericht ( coram | ||||||
| 09 | iudicio ), als einer dem Gesetz Effect verschaffenden moralischen Person, | ||||||
| 10 | Gerichtshof ( forum ) genannt, geschieht. - Das Bewußtsein eines | ||||||
| 11 | inneren Gerichtshofes im Menschen (" vor welchem sich seine Gedanken | ||||||
| 12 | einander verklagen oder entschuldigen") ist das Gewissen. | ||||||
| 13 | Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter | ||||||
| 14 | beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect (mit Furcht verbundener | ||||||
| 15 | Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist | ||||||
| 16 | nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem | ||||||
| 17 | Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen | ||||||
| 18 | gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben oder | ||||||
| 19 | in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden dann und wann zu sich selbst zu | ||||||
| 20 | kommen oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben | ||||||
| 21 | vernimmt. Er kann es in seiner äußersten Verworfenheit allenfalls dahin | ||||||
| 22 | bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören, kann | ||||||
| 23 | er doch nicht vermeiden. | ||||||
| 24 | Diese ursprüngliche intellectuelle und (weil sie Pflichtvorstellung ist) | ||||||
| 25 | moralische Anlage, Gewissen genannt, hat nun das Besondere in sich, | ||||||
| 26 | daß, obzwar dieses sein Geschäfte ein Geschäfte des Menschen mit sich selbst | ||||||
| 27 | ist, dieser sich doch durch seine Vernunft genöthigt sieht, es als auf den | ||||||
| 28 | Geheiß einer anderen Person zu treiben. Denn der Handel ist hier | ||||||
| 29 | die Führung einer Rechtssache ( causa ) vor Gericht. Daß aber der | ||||||
| 30 | durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe | ||||||
| 31 | Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart | ||||||
| 32 | von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. | ||||||
| 33 | Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten | ||||||
| 34 | einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d. i. ) als sich selbst, | ||||||
| 35 | zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich | ||||||
| 36 | selbst im Widerspruch stehen soll. Dieser Andere mag nun eine wirkliche, | ||||||
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