Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 312 |
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Text (Kant):
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| 02 | Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der | ||||||
| 03 | Gewaltthätigkeit der Menschen belehrt werden und ihrer Bösartigkeit, sich, | ||||||
| 04 | ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, | ||||||
| 05 | also nicht etwa ein Factum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang nothwendig | ||||||
| 06 | macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht | ||||||
| 07 | werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee | ||||||
| 08 | eines solchen (nicht=rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher | ||||||
| 09 | Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten | ||||||
| 10 | niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar | ||||||
| 11 | aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, | ||||||
| 12 | und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen; mithin das | ||||||
| 13 | Erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen | ||||||
| 14 | entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in | ||||||
| 15 | welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen | ||||||
| 16 | anderen (mit denen in Wechselwirkung zu gerathen er nicht vermeiden | ||||||
| 17 | kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange | ||||||
| 18 | zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für | ||||||
| 19 | das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende | ||||||
| 20 | Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil | ||||||
| 21 | wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten. | ||||||
| 22 | Zwar durfte sein natürlicher Zustand nicht eben darum ein Zustand | ||||||
| 23 | der Ungerechtigkeit ( iniustus ) sein, einander nur nach dem bloßen Maße | ||||||
| 24 | seiner Gewalt zu begegnen; aber es war doch ein Zustand der Rechtlosigkeit | ||||||
| 25 | ( status iustitia vacuus ), wo, wenn das Recht streitig ( ius controversum ) | ||||||
| 26 | war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch | ||||||
| 27 | zu thun, aus welchem nun in einen rechtlichen zu treten ein jeder | ||||||
| 28 | den Anderen mit Gewalt antreiben darf: weil, obgleich nach jedes seinen | ||||||
| 29 | Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben | ||||||
| 30 | werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so | ||||||
| 31 | lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, | ||||||
| 32 | weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und | ||||||
| 33 | durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist. | ||||||
| 34 | Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar | ||||||
| 35 | keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch für rechtlich erkennen, | ||||||
| 36 | so würde jener selbst unmöglich sein. Denn der Form nach enthalten | ||||||
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