Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 103 |
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| 01 | sich jedermann zur Überzeugung mittheilen läßt; indessen daß ein bloß auf | ||||||
| 02 | Facta gegründeter historischer Glaube seinen Einfluß nicht weiter ausbreiten | ||||||
| 03 | kann, als so weit die Nachrichten in Beziehung auf das Vermögen | ||||||
| 04 | ihre Glaubwürdigkeit zu beurtheilen nach Zeit= und Ortsumständen hingelangen | ||||||
| 05 | können. Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen | ||||||
| 06 | Natur daran Schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet | ||||||
| 07 | werden kann, als er wohl verdient, nämlich eine Kirche auf ihn | ||||||
| 08 | allein zu gründen. | ||||||
| 09 | Die Menschen, ihres Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher | ||||||
| 10 | Dinge sich bewußt, ob sie zwar jenem Glauben (als welcher im Allgemeinen | ||||||
| 11 | für sie überzeugend sein muß) alle Ehre widerfahren lassen, sind | ||||||
| 12 | doch nicht leicht zu überzeugen: daß die standhafte Beflissenheit zu einem | ||||||
| 13 | moralisch=guten Lebenswandel alles sei, was Gott von Menschen fordert, | ||||||
| 14 | um ihm wohlgefällige Unterthanen in seinem Reiche zu sein. Sie können | ||||||
| 15 | sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem Dienst | ||||||
| 16 | denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den innern | ||||||
| 17 | moralischen Werth der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, daß | ||||||
| 18 | sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst | ||||||
| 19 | sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam Gott zu gefallen. | ||||||
| 20 | Daß sie, wenn sie ihre Pflichten gegen Menschen (sich selbst und andere) | ||||||
| 21 | erfüllen, eben dadurch auch göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem | ||||||
| 22 | ihrem Thun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig | ||||||
| 23 | im Dienste Gottes sind, und daß es auch schlechterdings unmöglich | ||||||
| 24 | sei, Gott auf andere Weise näher zu dienen (weil sie doch auf keine andern, | ||||||
| 25 | als blos auf Weltwesen, nicht aber auf Gott wirken und Einfluß haben | ||||||
| 26 | können), will ihnen nicht in den Kopf. Weil ein jeder große Herr der Welt | ||||||
| 27 | ein besonderes Bedürfniß hat, von seinen Unterthanen geehrt und durch | ||||||
| 28 | Unterwürfigkeitsbezeigungen gepriesen zu werden, ohne welches er nicht | ||||||
| 29 | so viel Folgsamkeit gegen seine Befehle, als er wohl nöthig hat, um sie | ||||||
| 30 | beherrschen zu können, von ihnen erwarten kann; überdem auch der Mensch, | ||||||
| 31 | so vernunftvoll er auch sein mag, an Ehrenbezeugungen doch immer ein | ||||||
| 32 | unmittelbares Wohlgefallen findet: so behandelt man die Pflicht, so fern | ||||||
| 33 | sie zugleich göttliches Gebot ist, als Betreibung einer Angelegenheit | ||||||
| 34 | Gottes, nicht des Menschen, und so entspringt der Begriff einer gottesdienstlichen | ||||||
| 35 | statt des Begriffs einer reinen moralischen Religion. | ||||||
| 36 | Da alle Religion darin besteht: daß wir Gott für alle unsere Pflichten | ||||||
| 37 | als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen, so kommt es bei | ||||||
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