| Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 062 | |||||||
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| 01 | Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (sofern er | ||||||
| 02 | vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann | ||||||
| 03 | nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden; | ||||||
| 04 | d. i. der, welcher sich einer solchen moralischen Gesinnung bewußt ist, daß | ||||||
| 05 | er glauben und auf sich gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde | ||||||
| 06 | unter ähnlichen Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probirstein jener | ||||||
| 07 | Idee gemacht werden) dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig | ||||||
| 08 | und seinem Beispiele in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher | ||||||
| 09 | Mensch und auch nur der allein ist befugt, sich für denjenigen zu halten, | ||||||
| 10 | der ein des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist. | ||||||
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| 12 | Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in | ||||||
| 13 | sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. | ||||||
| 14 | Wir sollen ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch können. | ||||||
| 15 | Müßte man die Möglichkeit, ein diesem Urbilde gemäßer Mensch zu sein, | ||||||
| 16 | vorher beweisen, wie es bei Naturbegriffen unumgänglich nothwendig ist | ||||||
| 17 | (damit wir nicht Gefahr laufen, durch leere Begriffe hingehalten zu werden), | ||||||
| 18 | so würden wir eben sowohl auch Bedenken tragen müssen, selbst dem | ||||||
| 19 | moralischen Gesetze das Ansehen einzuräumen, unbedingter und doch hinreichender | ||||||
| 20 | Bestimmungsgrund unsrer Willkür zu sein; denn wie es möglich | ||||||
| 21 | sei, daß die bloße Idee einer Gesetzmäßigkeit überhaupt eine mächtigere | ||||||
| 22 | Triebfeder für dieselbe sein könne, als alle nur erdenkliche, die von Vortheilen | ||||||
| 23 | hergenommen werden, das kann weder durch Vernunft eingesehen, | ||||||
| 24 | noch durch Beispiele der Erfahrung belegt werden, weil, was das erste | ||||||
| 25 | betrifft, das Gesetz unbedingt gebietet, und das zweite anlangend, wenn | ||||||
| 26 | es auch nie einen Menschen gegeben hätte, der diesem Gesetze unbedingten | ||||||
| 27 | Gehorsam geleistet hätte, die objective Nothwendigkeit, ein solcher zu sein, | ||||||
| 28 | doch unvermindert und für sich selbst einleuchtet. Es bedarf also keines | ||||||
| 29 | Beispiels der Erfahrung, um die Idee eines Gott moralisch wohlgefälligen | ||||||
| 30 | Menschen für uns zum Vorbilde zu machen; sie liegt als ein solches | ||||||
| 31 | schon in unsrer Vernunft. - Wer aber, um einen Menschen für ein solches | ||||||
| 32 | mit jener Idee übereinstimmendes Beispiel zur Nachfolge anzuerkennen, | ||||||
| 33 | noch etwas mehr, als was er sieht, d. i. mehr als einen gänzlich | ||||||
| 34 | untadelhaften, ja so viel, als man nur verlangen kann, verdienstvollen | ||||||
| 35 | Lebenswandel, wer etwa außerdem noch Wunder, die durch ihn oder für | ||||||
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