| Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 020 | |||||||
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| 01 | in umgekehrter Richtung, nämlich vom Schlechten zum Bessern, unaufhörlich | ||||||
| 02 | (obgleich kaum merklich) fortrücke, wenigstens die Anlage dazu in | ||||||
| 03 | der menschlichen Natur anzutreffen sei. Diese Meinung aber haben sie | ||||||
| 04 | sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn vom Moralisch | ||||||
| 05 | Guten oder Bösen (nicht von der Civilisirung) die Rede ist: denn da | ||||||
| 06 | spricht die Geschichte aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie; sondern es ist | ||||||
| 07 | vermuthlich bloß eine gutmüthige Voraussetzung der Moralisten von Seneca | ||||||
| 08 | bis zu Rousseau, um zum unverdrossenen Anbau des vielleicht | ||||||
| 09 | in uns liegenden Keimes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf | ||||||
| 10 | eine natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne. Hiezu kommt | ||||||
| 11 | noch: daß, da man doch den Menschen von Natur (d. i. wie er gewöhnlich | ||||||
| 12 | geboren wird) als dem Körper nach gesund annehmen muß, keine Ursache | ||||||
| 13 | sei, ihn nicht auch der Seele nach eben so wohl von Natur für gesund und | ||||||
| 14 | gut anzunehmen. Diese sittliche Anlage zum Guten in uns auszubilden, | ||||||
| 15 | sei uns also die Natur selbst beförderlich. Sanabilibus aegrotamus malis, | ||||||
| 16 | nosque in rectum genitos natura, si sanari velimus, adiuvat: sagt | ||||||
| 17 | Seneca. | ||||||
| 18 | Weil es aber doch wohl geschehen sein könnte, daß man sich in beider | ||||||
| 19 | angeblichen Erfahrung geirrt hätte, so ist die Frage: ob nicht ein Mittleres | ||||||
| 20 | wenigstens möglich sei, nämlich, daß der Mensch in seiner Gattung | ||||||
| 21 | weder gut noch böse, oder allenfalls auch eines sowohl als das andere, zum | ||||||
| 22 | Theil gut, zum Theil böse, sein könne. - Man nennt aber einen Menschen | ||||||
| 23 | böse, nicht darum weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) | ||||||
| 24 | sind; sondern weil diese so beschaffen sind, daß sie auf böse Maximen | ||||||
| 25 | in ihm schließen lassen. Nun kann man zwar gesetzwidrige Handlungen | ||||||
| 26 | durch Erfahrung bemerken, auch (wenigstens an sich selbst) daß sie | ||||||
| 27 | mit Bewußtsein gesetzwidrig sind; aber die Maximen kann man nicht beobachten, | ||||||
| 28 | sogar nicht allemal in sich selbst, mithin das Urtheil, daß der | ||||||
| 29 | Thäter ein böser Mensch sei, nicht mit Sicherheit auf Erfahrung gründen. | ||||||
| 30 | Also müßte sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen | ||||||
| 31 | Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus | ||||||
| 32 | dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern | ||||||
| 33 | moralisch=bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen | ||||||
| 34 | lassen, um einen Menschen böse zu nennen. | ||||||
| 35 | Damit man sich aber nicht sofort am Ausdrucke Natur stoße, welcher, | ||||||
| 36 | wenn er (wie gewöhnlich) das Gegentheil des Grundes der Handlungen | ||||||
| 37 | aus Freiheit bedeuten sollte, mit den Prädicaten moralisch | ||||||
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