Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 409

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori      
  02 von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriffe eines freien      
  03 Willens unzertrennlich verknüpft. Nachahmung findet im Sittlichen gar      
  04 nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung, d. i. sie setzen      
  05 die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie machen      
  06 das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können      
  07 aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt,      
  08 bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten.      
           
  09 Wenn es denn keinen ächten obersten Grundsatz der Sittlichkeit giebt,      
  10 der nicht unabhängig von aller Erfahrung bloß auf reiner Vernunft beruhen      
  11 müßte, so glaube ich, es sei nicht nöthig, auch nur zu fragen, ob es      
  12 gut sei, diese Begriffe, so wie sie sammt den ihnen zugehörigen Principien      
  13 a priori feststehen, im Allgemeinen ( in abstracto ) vorzutragen, wofern das      
  14 Erkenntniß sich vom gemeinen unterscheiden und philosophisch heißen soll.      
  15 Aber in unsern Zeiten möchte dieses wohl nöthig sein. Denn wenn man      
  16 Stimmen sammelte, ob reine von allem Empirischen abgesonderte Vernunfterkenntniß,      
  17 mithin Metaphysik der Sitten, oder populäre praktische      
  18 Philosophie vorzuziehen sei, so erräth man bald, auf welche Seite das      
  19 Übergewicht fallen werde.      
           
  20 Diese Herablassung zu Volksbegriffen ist allerdings sehr rühmlich,      
  21 wenn die Erhebung zu den Principien der reinen Vernunft zuvor geschehen      
  22 und zur völligen Befriedigung erreicht ist, und das würde heißen,      
  23 die Lehre der Sitten zuvor auf Metaphysik gründen, ihr aber, wenn sie      
  24 fest steht, nachher durch Popularität Eingang verschaffen. Es ist aber      
  25 äußerst ungereimt, dieser in der ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit      
  26 der Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen. Nicht allein daß      
  27 dieses Verfahren auf das höchst seltene Verdienst einer wahren philosophischen      
  28 Popularität niemals Anspruch machen kann, indem es gar      
  29 keine Kunst ist, gemeinverständlich zu sein, wenn man dabei auf alle gründliche      
  30 Einsicht Verzicht thut, so bringt es einen ekelhaften Mischmasch von      
  31 zusammengestoppelten Beobachtungen und halbvernünftelnden Principien      
  32 zum Vorschein, daran sich schale Köpfe laben, weil es doch etwas gar      
  33 Brauchbares fürs alltägliche Geschwätz ist, wo Einsehende aber Verwirrung      
  34 fühlen und unzufrieden, ohne sich doch helfen zu können, ihre Augen      
  35 wegwenden, obgleich Philosophen, die das Blendwerk ganz wohl durchschauen,      
  36 wenig Gehör finden, wenn sie auf einige Zeit von der vorgeblichen      
           
     

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