Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 410 |
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01 | Popularität abrufen, um nur allererst nach erworbener bestimmter | ||||||
02 | Einsicht mit Recht populär sein zu dürfen. | ||||||
03 | Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten | ||||||
04 | Geschmacke Ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der | ||||||
05 | menschlichen Natur (mitunter aber auch die Idee von einer vernünftigen | ||||||
06 | Natur überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches | ||||||
07 | Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas | ||||||
08 | in wunderbarem Gemische antreffen, ohne daß man sich einfallen läßt zu | ||||||
09 | fragen, ob auch überall in der Kenntniß der menschlichen Natur (die wir | ||||||
10 | doch nur von der Erfahrung herhaben können) die Principien der Sittlichkeit | ||||||
11 | zu suchen seien, und, wenn dieses nicht ist, wenn die letztere völlig a | ||||||
12 | priori, frei von allem Empirischen, schlechterdings in reinen Vernunftbegriffen | ||||||
13 | und nirgend anders auch nicht dem mindesten Theile nach anzutreffen | ||||||
14 | sind, den Anschlag zu fassen, diese Untersuchung als reine praktische | ||||||
15 | Weltweisheit, oder (wenn man einen so Verschrieenen Namen nennen darf) | ||||||
16 | als Metaphysik*) der Sitten lieber ganz abzusondern, sie für sich allein | ||||||
17 | zu ihrer ganzen Vollständigkeit zu bringen und das Publicum, das Popularität | ||||||
18 | verlangt, bis zum Ausgange dieses Unternehmens zu vertrösten. | ||||||
19 | Es ist aber eine solche völlig isolirte Metaphysik der Sitten, die mit | ||||||
20 | keiner Anthropologie, mit keiner Theologie, mit keiner Physik oder Hyperphysik, | ||||||
21 | noch weniger mit verborgenen Qualitäten (die man hypophysisch | ||||||
22 | nennen könnte) vermischt ist, nicht allein ein unentbehrliches Substrat | ||||||
23 | aller theoretischen, sicher bestimmten Erkenntniß der Pflichten, sondern zugleich | ||||||
24 | ein Desiderat von der höchsten Wichtigkeit zur wirklichen Vollziehung | ||||||
25 | ihrer Vorschriften. Denn die reine und mit keinem fremden Zusatze von | ||||||
26 | empirischen Anreizen vermischte Vorstellung der Pflicht und überhaupt | ||||||
27 | des sittlichen Gesetzes hat auf das menschliche Herz durch den Weg der | ||||||
28 | Vernunft allein (die hiebei zuerst inne wird, daß sie für sich selbst auch | ||||||
29 | praktisch sein kann) einen so viel mächtigern Einfluß, als alle andere Triebfedern*), | ||||||
*) Man kann, wenn man will, (so wie die reine Mathematik von der angewandten, die reine Logik von der angewandten unterschieden wird, also) die reine Philosophie der Sitten (Metaphysik) von der angewandten (nämlich auf die menschliche Natur) unterscheiden. Durch diese Benennung wird man auch sofort erinnert, daß die sittlichen Principien nicht auf die Eigenheiten der menschlichen Natur gegründet, sondern für sich a priori bestehend sein müssen, aus solchen aber, wie für jede vernünftige Natur, also auch für die menschliche praktische Regeln müssen abgeleitet werden können. [Seitenumbruch] *) Ich habe einen Brief vom sel. vortrefflichen Sulzer, worin er mich frägt: was doch die Ursache sein möge, warum die Lehren der Tugend, so viel Überzeugendes sie auch für die Vernunft haben, doch so wenig ausrichten. Meine Antwort wurde durch die Zurüstung dazu, um sie vollständig zu geben, verspätet. Allein es ist keine andere, als daß die Lehrer selbst ihre Begriffe nicht ins Reine gebracht haben, und indem sie es zu gut machen wollen, dadurch, daß sie allerwärts Bewegursachen zum Sittlichguten auftreiben, um die Arznei recht kräftig zu machen, sie sie verderben. Denn die gemeinste Beobachtung zeigt, daß, wenn man eine Handlung der Rechtschaffenheit vorstellt, wie sie von aller Absicht auf irgend einen Vortheil in dieser oder einer andern Welt abgesondert selbst unter den größten Versuchungen der Noth oder der Anlockung mit standhafter Seele ausgeübt worden, sie jede ähnliche Handlung, die nur im mindesten durch eine fremde Triebfeder afficirt war, weit hinter sich lasse und verdunkle, die Seele erhebe und den Wunsch errege, auch so handeln zu können. Selbst Kinder von mittlerem Alter fühlen diesen Eindruck, und ihnen sollte man Pflichten auch niemals anders vorstellen. | |||||||
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