Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 406 |
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Text (Kant):
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01 | Zweiter Abschnitt. |
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02 | Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit |
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03 | zur |
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04 | Metaphysik der Sitten. |
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05 | Wenn wir unsern bisherigen Begriff der Pflicht aus dem gemeinen | ||||||
06 | Gebrauche unserer praktischen Vernunft gezogen haben, so ist daraus keinesweges | ||||||
07 | zu schließen, als hätten wir ihn als einen Erfahrungsbegriff | ||||||
08 | behandelt. Vielmehr, wenn wir auf die Erfahrung vom Thun und Lassen | ||||||
09 | der Menschen Acht haben, treffen wir häufige und, wie wir selbst einräumen, | ||||||
10 | gerechte Klagen an, daß man von der Gesinnung, aus reiner Pflicht | ||||||
11 | zu handeln, so gar keine sichere Beispiele anführen könne, daß, wenn gleich | ||||||
12 | manches dem, was Pflicht gebietet, gemäß geschehen mag, dennoch es | ||||||
13 | immer noch zweifelhaft sei, ob es eigentlich aus Pflicht geschehe und also | ||||||
14 | einen moralischen Werth habe. Daher es zu aller Zeit Philosophen gegeben | ||||||
15 | hat, welche die Wirklichkeit dieser Gesinnung in den menschlichen | ||||||
16 | Handlungen schlechterdings abgeleugnet und alles der mehr oder weniger | ||||||
17 | verfeinerten Selbstliebe zugeschrieben haben, ohne doch deswegen die Richtigkeit | ||||||
18 | des Begriffs von Sittlichkeit in Zweifel zu ziehen, vielmehr mit | ||||||
19 | inniglichem Bedauren der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit der menschlichen | ||||||
20 | Natur Erwähnung thaten, die zwar edel gnug sei, sich eine so achtungswürdige | ||||||
21 | Idee zu ihrer Vorschrift zu machen, aber zugleich zu schwach, | ||||||
22 | um sie zu befolgen, und die Vernunft, die ihr zur Gesetzgebung dienen | ||||||
23 | sollte, nur dazu braucht, um das Interesse der Neigungen, es sei einzeln | ||||||
24 | oder, wenn es hoch kommt, in ihrer größten Verträglichkeit unter einander, | ||||||
25 | zu besorgen. | ||||||
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