Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 405

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl bewahren läßt und leicht verführt      
  02 wird. Deswegen bedarf selbst die Weisheit - die sonst wohl mehr im      
  03 Thun und Lassen, als im Wissen besteht - doch auch der Wissenschaft,      
  04 nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit      
  05 zu verschaffen. Der Mensch fühlt in sich selbst ein mächtiges Gegengewicht      
  06 gegen alle Gebote der Pflicht, die ihm die Vernunft so hochachtungswürdig      
  07 vorstellt, an seinen Bedürfnissen und Neigungen, deren      
  08 ganze Befriedigung er unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt.      
  09 Nun gebietet die Vernunft, ohne doch dabei den Neigungen etwas zu verheißen,      
  10 unnachlaßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung und Nichtachtung      
  11 jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche      
  12 (die sich durch kein Gebot wollen aufheben lassen) ihre Vorschriften. Hieraus      
  13 entspringt aber eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider      
  14 jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens      
  15 ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich      
  16 unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d. i. sie      
  17 im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches      
  18 denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen      
  19 kann.      
           
  20 So wird also die gemeine Menschenvernunft nicht durch irgend      
  21 ein Bedürfniß der Speculation (welches ihr, so lange sie sich genügt, bloße      
  22 gesunde Vernunft zu sein, niemals anwandelt), sondern selbst aus praktischen      
  23 Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen und einen Schritt      
  24 ins Feld einer praktischen Philosophie zu thun, um daselbst wegen der      
  25 Quelle ihres Princips und richtigen Bestimmung desselben in Gegenhaltung      
  26 mit den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen, Erkundigung      
  27 und deutliche Anweisung zu bekommen, damit sie aus der Verlegenheit      
  28 wegen beiderseitiger Ansprüche herauskomme und nicht Gefahr      
  29 laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sittliche      
  30 Grundsätze gebracht zu werden. Also entspinnt sich eben sowohl in der      
  31 praktischen gemeinen Vernunft, wenn sie sich cultivirt, unvermerkt eine      
  32 Dialektik, welche sie nöthigt, in der Philosophie hülfe zu suchen, als es      
  33 ihr im theoretischen Gebrauche widerfährt, und die erstere wird daher wohl      
  34 eben so wenig als die andere irgendwo sonst, als in einer vollständigen      
  35 Kritik unserer Vernunft Ruhe finden.      
           
           
     

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