Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 428

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen      
  02 und unentbehrlich nothwendigen regulativen Gebrauch, nämlich      
  03 den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches      
  04 die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen,      
  05 der, ob er zwar nur eine Idee ( focus imaginarius ), d. i. ein Punkt, ist,      
  06 aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er      
  07 ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu      
  08 dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.      
  09 Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese      
  10 Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch      
  11 möglicher Erkenntniß läge, ausgeschlossen wären (so wie die Objecte      
  12 hinter der Spiegelfläche gesehen werden); allein diese Illusion (welche      
  13 man doch hindern kann, daß sie nicht betrügt) ist gleichwohl unentbehrlich      
  14 nothwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind,      
  15 auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken      
  16 liegen, d. i. wenn wir in unserem Falle den Verstand über jede gegebene      
  17 Erfahrung (den Theil der gesammten möglichen Erfahrung) hinaus, mithin      
  18 auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen.      
           
  19 Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange,      
  20 so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigenthümlich      
  21 darüber verfügt und zu Stande zu bringen sucht, das Systematische      
  22 der Erkenntniß sei, d. i. der Zusammenhang derselben aus einem Princip.      
  23 Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von      
  24 der Form eines Ganzen der Erkenntniß, welches vor der bestimmten Erkenntniß      
  25 der Theile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Theile      
  26 seine Stelle und Verhältniß zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese      
  27 Idee postulirt demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntniß,      
  28 wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach nothwendigen      
  29 Gesetzen zusammenhängendes System wird. Man kann eigentlich      
  30 nicht sagen, daß diese Idee ein Begriff vom Objecte sei, sondern von      
  31 der durchgängigen Einheit dieser Begriffe, so fern dieselbe dem Verstande      
  32 zur Regel dient. Dergleichen Vernunftbegriffe werden nicht aus der      
  33 Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen und      
  34 halten unsere Erkenntniß für mangelhaft, so lange sie denselben nicht adäquat      
  35 ist. Man gesteht, daß sich schwerlich reine Erde, reines Wasser,      
  36 reine Luft etc. finde. Gleichwohl hat man die Begriffe davon doch nöthig      
  37 (die also, was die völlige Reinigkeit betrifft, nur in der Vernunft ihren      
           
     

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