Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 044 |
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| 01 | hat und den Probirstein des Werths oder Unwerths aller Erkenntnisse | ||||||
| 02 | a priori abgeben soll, ist das, womit wir uns jetzt beschäftigen. Eine | ||||||
| 03 | solche Kritik ist demnach eine Vorbereitung wo möglich zu einem Organon, | ||||||
| 04 | und wenn dieses nicht gelingen sollte, wenigstens zu einem Kanon derselben, | ||||||
| 05 | nach welchem allenfalls dereinst das vollständige System der Philosophie | ||||||
| 06 | der reinen Vernunft, es mag nun in Erweiterung oder bloßer Begrenzung | ||||||
| 07 | ihrer Erkenntniß bestehen, sowohl analytisch als synthetisch dargestellt | ||||||
| 08 | werden könnte. Denn daß dieses möglich sei, ja daß ein solches | ||||||
| 09 | System von nicht gar großem Umfange sein könne, um zu hoffen, es ganz | ||||||
| 10 | zu vollenden, läßt sich schon zum voraus daraus ermessen, daß hier nicht | ||||||
| 11 | die Natur der Dinge, welche unerschöpflich ist, sondern der Verstand, der | ||||||
| 12 | über die Natur der Dinge urtheilt, und auch dieser wiederum nur in Ansehung | ||||||
| 13 | seiner Erkenntniß a priori den Gegenstand ausmacht, dessen Vorrath, | ||||||
| 14 | weil wir ihn doch nicht auswärtig suchen dürfen, uns nicht verborgen | ||||||
| 15 | bleiben kann und allem Vermuthen nach klein genug ist, um vollständig | ||||||
| 16 | aufgenommen, nach seinem Werthe oder Unwerthe beurtheilt und unter | ||||||
| 17 | richtige Schätzung gebracht zu werden. Noch weniger darf man hier eine | ||||||
| 18 | Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft erwarten, sondern | ||||||
| 19 | die des reinen Vernunftvermögens selbst. Nur allein, wenn diese zum | ||||||
| 20 | Grunde liegt, hat man einen sicheren Probirstein, den philosophischen Gehalt | ||||||
| 21 | alter und neuer Werke in diesem Fache zu schätzen; widrigenfalls beurtheilt | ||||||
| 22 | der unbefugte Geschichtschreiber und Richter grundlose Behauptungen | ||||||
| 23 | anderer durch seine eigene, die eben so grundlos sind. | ||||||
| 24 | Die Transscendental=Philosophie ist die Idee einer Wissenschaft, | ||||||
| 25 | wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, | ||||||
| 26 | d. i. aus Principien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit | ||||||
| 27 | und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. | ||||||
| 28 | Sie ist das System aller Principien der reinen Vernunft. Daß diese | ||||||
| 29 | Kritik nicht schon selbst Transscendental=Philosophie heißt, beruht lediglich | ||||||
| 30 | darauf, daß sie, um ein vollständig System zu sein, auch eine ausführliche | ||||||
| 31 | Analysis der ganzen menschlichen Erkenntniß a priori enthalten | ||||||
| 32 | müßte. Nun muß zwar unsere Kritik allerdings auch eine vollständige | ||||||
| 33 | Herzählung aller Stammbegriffe, welche die gedachte reine Erkenntniß | ||||||
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