| Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 010 | |||||||
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| 01 | Mit der Naturwissenschaft ging es weit langsamer zu, bis sie den | ||||||
| 02 | Heeresweg der Wissenschaft traf; denn es sind nur etwa anderthalb Jahrhunderte, | ||||||
| 03 | daß der Vorschlag des Sinnreichen Baco von Verulam diese | ||||||
| 04 | Entdeckung theils veranlaßte, theils, da man bereits auf der Spur derselben | ||||||
| 05 | war, mehr belebte, welche eben sowohl nur durch eine schnell vorgegangene | ||||||
| 06 | Revolution der Denkart erklärt werden kann. Ich will hier | ||||||
| 07 | nur die Naturwissenschaft, so fern sie auf empirische Principien gegründet | ||||||
| 08 | ist, in Erwägung ziehen. | ||||||
| 09 | Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst | ||||||
| 10 | gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, | ||||||
| 11 | was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht | ||||||
| 12 | hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metalle in Kalk | ||||||
| 13 | und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog | ||||||
| 14 | und wiedergab:*) so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, | ||||||
| 15 | daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe | ||||||
| 16 | hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen | ||||||
| 17 | Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu | ||||||
| 18 | antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln | ||||||
| 19 | lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen | ||||||
| 20 | Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze | ||||||
| 21 | zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft | ||||||
| 22 | muß mit ihren Principien, nach denen allein übereinstimmende Erscheinungen | ||||||
| 23 | für Gesetze gelten können, in einer Hand und mit dem Experiment, | ||||||
| 24 | das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar | ||||||
| 25 | um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, | ||||||
| 26 | der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten | ||||||
| 27 | Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er | ||||||
| 28 | ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vortheilhafte Revolution | ||||||
| 29 | ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die | ||||||
| 30 | Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß dasjenige in ihr zu suchen | ||||||
| 31 | (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für | ||||||
| 32 | sich selbst nichts wissen würde. Hiedurch ist die Naturwissenschaft allererst | ||||||
| 33 | in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, da sie so viel | ||||||
| 34 | Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war. | ||||||
| *) Ich folge hier nicht genau dem Faden der Geschichte der Experimentalmethode, deren erste Anfänge auch nicht wohl bekannt sind. | |||||||
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