| Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 011 | |||||||
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| 01 | Der Metaphysik, einer ganz isolirten speculativen Vernunfterkenntniß, | ||||||
| 02 | die sich gänzlich über Erfahrungsbelehrung erhebt und zwar | ||||||
| 03 | durch bloße Begriffe (nicht wie Mathematik durch Anwendung derselben | ||||||
| 04 | auf Anschauung), wo also Vernunft selbst ihr eigener Schüler sein soll, | ||||||
| 05 | ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht gewesen, daß sie den sichern | ||||||
| 06 | Gang einer Wissenschaft einzuschlagen vermocht hätte, ob sie gleich älter | ||||||
| 07 | ist als alle übrige und bleiben würde, wenn gleich die übrigen insgesammt | ||||||
| 08 | in dem Schlunde einer alles vertilgenden Barbarei gänzlich verschlungen | ||||||
| 09 | werden sollten. Denn in ihr geräth die Vernunft continuirlich in Stecken, | ||||||
| 10 | selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche die gemeinste Erfahrung bestätigt, | ||||||
| 11 | (wie sie sich anmaßt) a priori einsehen will. In ihr muß man unzählige | ||||||
| 12 | mal den Weg zurück thun, weil man findet, daß er dahin nicht | ||||||
| 13 | führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer Anhänger in Behauptungen | ||||||
| 14 | betrifft, so ist sie noch so weit davon entfernt, daß sie vielmehr | ||||||
| 15 | ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, | ||||||
| 16 | seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf dem noch niemals irgend ein | ||||||
| 17 | Fechter sich auch den kleinsten Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg | ||||||
| 18 | einen dauerhaften Besitz gründen können. Es ist also kein Zweifel, daß | ||||||
| 19 | ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und was das Schlimmste | ||||||
| 20 | ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei. | ||||||
| 21 | Woran liegt es nun, daß hier noch kein sicherer Weg der Wissenschaft | ||||||
| 22 | hat gefunden werden können? Ist er etwa unmöglich? Woher hat denn | ||||||
| 23 | die Natur unsere Vernunft mit der rastlosen Bestrebung heimgesucht, ihm | ||||||
| 24 | als einer ihrer wichtigsten Angelegenheiten nachzuspüren? Noch mehr, wie | ||||||
| 25 | wenig haben wir Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn | ||||||
| 26 | sie uns in einem der wichtigsten Stücke unserer Wißbegierde nicht bloß | ||||||
| 27 | verläßt, sondern durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt! | ||||||
| 28 | Oder ist er bisher nur verfehlt, welche Anzeige können wir benutzen, um | ||||||
| 29 | bei erneuertem Nachsuchen zu hoffen, daß wir glücklicher sein werden, als | ||||||
| 30 | andere vor uns gewesen sind? | ||||||
| 31 | Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, | ||||||
| 32 | die durch eine auf einmal zu Stande gebrachte Revolution das geworden | ||||||
| 33 | sind, was sie jetzt sind, wären merkwürdig genug, um dem wesentlichen | ||||||
| 34 | Stücke der Umänderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden | ||||||
| 35 | ist, nachzusinnen und ihnen, so viel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, | ||||||
| 36 | mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche | ||||||
| 37 | nachzuahmen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse | ||||||
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