Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 221

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 mögen die zufällige Reize sich ändern, sie ist gleichwohl noch immer      
  02 seine Frau. Der edle Grund bleibt und ist nicht dem Unbestande äußerer      
  03 Dinge so sehr unterworfen. Von solcher Beschaffenheit sind Grundsätze in      
  04 Vergleichung der Regungen, die blos bei einzelnen Veranlassungen aufwallen,      
  05 und so ist der Mann von Grundsätzen in Gegenhalt mit demjenigen,      
  06 welchen gelegentlich eine gutherzige und liebreiche Bewegung anwandelt.      
  07 Wie aber wenn sogar die geheime Sprache seines Herzens also      
  08 lautete: Ich muß jenem Menschen da zu Hülfe kommen, denn er leidet;      
  09 nicht daß er etwa mein Freund oder Gesellschafter wäre, oder daß ich ihn      
  10 fähig hielte dereinst Wohlthat mit Dankbarkeit zu erwidern. Es ist jetzt      
  11 keine Zeit zu vernünfteln und sich bei Fragen aufzuhalten: er ist ein      
  12 Mensch, und was Menschen widerfährt, das trifft auch mich. Alsdann      
  13 stützt sich sein Verfahren auf den höchsten Grund des Wohlwollens in der      
  14 menschlichen Natur und ist äußerst erhaben, sowohl seiner Unveränderlichkeit      
  15 nach, als um der Allgemeinheit seiner Anwendung willen.      
           
  16 Ich fahre in meinen Anmerkungen fort. Der Mensch von melancholischer      
  17 Gemüthsverfassung bekümmert sich wenig darum, was andere urtheilen,      
  18 was sie für gut oder für wahr halten, er stützt sich desfalls blos      
  19 auf seine eigene Einsicht. Weil die Bewegungsgründe in ihm die Natur      
  20 der Grundsätze annehmen, so ist er nicht leicht auf andere Gedanken zu      
  21 bringen; seine Standhaftigkeit artet auch bisweilen in Eigensinn aus. Er      
  22 sieht den Wechsel der Moden mit Gleichgültigkeit und ihren Schimmer      
  23 mit Verachtung an. Freundschaft ist erhaben und daher für sein Gefühl.      
  24 Er kann vielleicht einen veränderlichen Freund verlieren, allein dieser verliert      
  25 ihn nicht eben so bald. Selbst das Andenken der erloschenen Freundschaft      
  26 ist ihm noch ehrwürdig. Gesprächigkeit ist schön, gedankenvolle Verschwiegenheit      
  27 erhaben. Er ist ein guter Verwahrer seiner und anderer      
  28 Geheimnisse. Wahrhaftigkeit ist erhaben, und er haßt Lügen oder Verstellung.      
  29 Er hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur.      
  30 Er schätzt sich selbst und hält einen Menschen für ein Geschöpf, das daß      
  31 Achtung verdient. Er erduldet keine verworfene Unterthänigkeit und athmet      
  32 Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten von den vergoldeten an, die      
  33 man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind      
  34 ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer und      
  35 nicht selten seiner sowohl als der Welt überdrüssig.      
           
  36 In der Ausartung dieses Charakters neigt sich die Ernsthaftigkeit zur      
  37 Schwermuth, die Andacht zur Schwärmerei, der Freiheitseifer zum Enthusiasmus.      
           
     

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