Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 220

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 mehrentheils nur aufs Schimmern abgezielt sind, zu Schilderung eines solchen      
  02 Charakters aufzusuchen.      
           
  03 Niemals ist ein Mensch ohne alle Spuren der feineren Empfindung,      
  04 allein ein größerer Mangel derselben, der vergleichungsweise auch Fühllosigkeit      
  05 heißt, kommt in den Charakter des phlegmatischen, den man      
  06 sonst auch sogar der gröbern Triebfedern, als der Geldbegierde etc. etc., beraubt,      
  07 die wir aber zusammt andern, verschwisterten Neigungen ihm allenfalls      
  08 lassen können, weil sie gar nicht in diesen Plan gehören.      
           
  09 Laßt uns anjetzt die Empfindungen des Erhabenen und Schönen,      
  10 vornehmlich so fern sie moralisch sind, unter der angenommenen Eintheilung      
  11 der Temperamente näher betrachten.      
           
  12 Der, dessen Gefühl ins Melancholische einschlägt, wird nicht darum      
  13 so genannt, weil er, der Freuden des Lebens beraubt, sich in finsterer      
  14 Schwermuth härmt, sondern weil seine Empfindungen, wenn sie über einen      
  15 gewissen Grad vergrößert würden, oder durch einige Ursachen eine falsche      
  16 Richtung bekämen, auf dieselbe leichter als einen andern Zustand auslaufen      
  17 würden. Er hat vorzüglich ein Gefühl für das Erhabene.      
  18 Selbst die Schönheit, für welche er eben so wohl Empfindung hat, mu      
  19 ihn nicht allein reizen, sondern, indem sie ihm zugleich Bewunderung einflößt,      
  20 rühren. Der Genuß der Vergnügen ist bei ihm ernsthafter, aber      
  21 um deswillen nicht geringer. Alle Rührungen des Erhabenen haben mehr      
  22 Bezauberndes an sich als die gaukelnde Reize des Schönen. Sein Wohlbefinden      
  23 wird eher Zufriedenheit als Lustigkeit sein. Er ist standhaft.      
  24 Um deswillen ordnet er seine Empfindungen unter Grundsätze. Sie sind      
  25 desto weniger dem Unbestande und der Veränderung unterworfen, je allgemeiner      
  26 dieser Grundsatz ist, welchem sie untergeordnet werden, und je      
  27 erweiterter also das hohe Gefühl ist, welches die niedere unter sich befaßt.      
  28 Alle besondere Gründe der Neigungen sind vielen Ausnahmen und Änderungen      
  29 unterworfen, wofern sie nicht aus einem solchen oberen Grunde      
  30 abgeleitet sind. Der muntere und freundliche Alcest sagt: Ich liebe und      
  31 schätze meine Frau, denn sie ist schön, schmeichelhaft und klug. Wie aber,      
  32 wenn sie nun durch Krankheit entstellt, durch Alter mürrisch und, nachdem      
  33 die erste Bezauberung verschwunden, euch nicht klüger scheinen würde wie      
  34 jede andere? Wenn der Grund nicht mehr da ist, was kann aus der Neigung      
  35 werden? Nehmet dagegen den wohlwollenden und gesetzten Adrast, welcher      
  36 bei sich denkt: Ich werde dieser Person liebreich und mit Achtung begegnen,      
  37 denn sie ist meine Frau. Diese Gesinnung ist edel und großmüthig. Nunmehr      
           
     

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