Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 222

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Beleidigung und Ungerechtigkeit zünden in ihm Rachbegierde      
  02 an. Er ist alsdann sehr zu fürchten. Er trotzt der Gefahr und verachtet      
  03 den Tod. Bei der Verkehrtheit seines Gefühls und dem Mangel einer      
  04 aufgeheiterten Vernunft verfällt er aufs Abenteuerliche. Eingebungen,      
  05 Erscheinungen, Anfechtungen. Ist der Verstand noch schwächer, so geräth      
  06 er auf Fratzen. Bedeutende Träume, Ahndungen und Wunderzeichen.      
  07 Er ist in Gefahr ein Phantast oder ein Grillenfänger zu werden.      
           
  08 Der von sanguinischer Gemüthsverfassung hat ein herrschendes      
  09 Gefühl für das Schöne. Seine Freuden sind daher lachend und lebhaft.      
  10 Wenn er nicht lustig ist, so ist er mißvergnügt und kennt wenig die      
  11 zufriedene Stille. Mannigfaltigkeit ist schön, und er liebt die Veränderung.      
  12 Er sucht die Freude in sich und um sich, belustigt andere und ist ein guter      
  13 Gesellschafter. Er hat viel moralische Sympathie. Anderer Fröhlichkeit      
  14 macht ihn vergnügt und ihr Leid weichherzig. Sein sittliches Gefühl ist      
  15 schön, allein ohne Grundsätze und hängt jederzeit unmittelbar von dem      
  16 gegenwärtigen Eindrucke ab, den die Gegenstände auf ihn machen. Er ist      
  17 ein Freund von allen Menschen oder, welches einerlei sagen will, eigentlich      
  18 niemals ein Freund, ob er zwar gutherzig und wohlwollend ist. Er verstellt      
  19 sich nicht. Er wird euch heute mit seiner Freundlichkeit und guten      
  20 Art unterhalten, morgen, wenn ihr krank oder im Unglücke seid, wahres      
  21 und ungeheucheltes Beileid empfinden, aber sich sachte davon schleichen,      
  22 bis sich die Umstände geändert haben. Er muß niemals Richter sein.      
  23 Die Gesetze sind ihm gemeiniglich zu strenge, und er läßt sich durch Thränen      
  24 bestechen. Er ist ein schlimmer Heiliger, niemals recht gut und niemals      
  25 recht böse. Er schweift öfters aus und ist lasterhaft, mehr aus Gefälligkeit      
  26 als aus Neigung. Er ist freigebig und wohlthätig, aber ein schlechter      
  27 Zahler dessen, was er schuldig ist, weil er wohl viel Empfindung für Güte,      
  28 aber wenig für Gerechtigkeit hat. Niemand hat eine so gute Meinung      
  29 von seinem eigenen Herzen als er. Wenn ihr ihn gleich nicht hochachtet,      
  30 so werdet ihr ihn doch lieben müssen. In dem größeren Verfall seines      
  31 Charakters geräth er ins Läppische, er ist tändelnd und kindisch. Wenn      
  32 nicht das Alter noch etwa die Lebhaftigkeit mindert, oder mehr Verstand      
  33 herbeibringt, so ist er in Gefahr, ein alter Geck zu werden.      
           
  34 Der, welchen man unter der cholerischen Gemüthsbeschaffenheit      
  35 meint, hat ein herrschendes Gefühl für diejenige Art des Erhabenen,      
  36 welche man das Prächtige nennen kann. Sie ist eigentlich nur der      
  37 Schimmer der Erhabenheit und eine stark abstechende Farbe, welche den      
           
     

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