Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 107 |
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| 01 | aufgezogen wäre, wenn seine Scharfsinnigkeit diese Schwäche nicht | ||||||
| 02 | wahrgenommen hätte. Allein er sah sich genöthigt die Weisheit | ||||||
| 03 | Gottes zu Hülfe zu rufen, ein gewisses Merkmal, daß die Geometrie | ||||||
| 04 | ihm keine tüchtige Waffen dargeboten hätte. | ||||||
| 05 | Nec Deus intersit, nisi dignus vindice nodus | ||||||
| 06 | Inciderit - - Horat. de arte poet. | ||||||
| 07 | Allein auch die kleine Schutzwehre ist von keiner Beständigkeit. | Wird beantwortet. | |||||
| 08 | Es ist hier bloß von der Schätzung der | ||||||
| 09 | Kräfte, welche durch die Mathematik erkannt wird, die Rede, und es | ||||||
| 10 | ist kein Wunder, wenn dieselbe der Weisheit Gottes nicht vollkommen | ||||||
| 11 | genug thut. Dies ist eine aus dem Mittel aller Erkenntnisse herausgenommene | ||||||
| 12 | Wissenschaft, die für sich allein nicht mit den Regeln des | ||||||
| 13 | Wohlanständigen und Geziemenden gnugsam besteht, und die mit den | ||||||
| 14 | Lehren der Metaphysik zusammen genommen werden muß, wenn sie | ||||||
| 15 | auf die Natur vollkommen angewendet werden soll. Die Harmonie, | ||||||
| 16 | die sich unter den Wahrheiten befindet, ist wie die Übereinstimmung | ||||||
| 17 | in einem Gemälde. Wenn man einen Theil insbesondere herausnimmt, | ||||||
| 18 | so verschwindet das Wohlanständige, das Schöne und Geschickte; | ||||||
| 19 | allein sie müssen alle zugleich gesehen werden, um dasselbe wahrzunehmen. | ||||||
| 20 | Die Cartesianische Schätzung ist den Absichten der Natur | ||||||
| 21 | zuwider: also ist sie nicht das wahre Kräftenmaß der Natur, allein | ||||||
| 22 | dieses hindert dennoch nicht, daß sie nicht das wahre und rechtmäßige | ||||||
| 23 | Kräftenmaß der Mathematik sein sollte. Denn die mathematischen | ||||||
| 24 | Begriffe von den Eigenschaften der Körper und ihrer Kräfte sind noch | ||||||
| 25 | von den Begriffen, die in der Natur angetroffen werden, weit unterschieden, | ||||||
| 26 | und es ist genug, daß wir gesehen haben: die Cartesianische | ||||||
| 27 | Schätzung sei jenen nicht entgegen. Wir müssen aber die metaphysische | ||||||
| 28 | Gesetze mit den Regeln der Mathematik verknüpfen, um das wahre | ||||||
| 29 | Kräftenmaß der Natur zu bestimmen; dieses wird die Lücke ausfüllen | ||||||
| 30 | und den Absichten der Weisheit Gottes besser Gnüge leisten. | ||||||
| 31 | § 99. |
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| 32 | Herr Papin, einer von den berüchtigsten Widersachern | Der Einwurf | |||||
| 33 | der lebendigen Kräfte, hat die Sache des Cartesius | des Herrn | |||||
| 34 | gegen diesen Beweisgrund des Herrn von Leibniz sehr | Papins. | |||||
| 35 | unglücklich geführt. Er hat seinem Gegner das Schlachtfeld geräumt | ||||||
| 36 | und ist querfeldeingelaufen, um irgendwo einen Posten zu behaupten, | ||||||
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